Öl auf Leinwand, 55 x 48 cm
Der aus Baden stammende Maler Diethelm Meyer (1840–1884) ist einer von vielen Schweizer Kunstschaffenden, die sich im 19. Jahrhundert gezwungen sehen, die Heimat zu verlassen und die „Schweizer Malerei“ im Ausland weiterzuentwickeln. Mit Ausnahme der Genfer Kunstschule gibt es damals keine institutionalisierten Ausbildungsstätten und auch die Turnus-Ausstellungen des Schweizerischen Kunstvereins geraten bei professionellen Künstlern aufgrund der starken Präsenz von Laienmalern in Misskredit. Nach ersten künstlerischen Unterweisungen beim Kirchen- und Historienmaler Melchior Paul Deschwanden (1811–1881) in Stans übersiedelt Meyer nach München und studiert an der dortigen Akademie. Die Stadt avanciert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Förderung der herrschenden Wittelsbacher zur bedeutendsten Kunststadt Deutschlands. Darüber hinaus bilden die jährlich stattfindenden Präsentationen im Glaspalast ein wichtiges Forum für die Kunstschaffenden.
1863 kehrt Meyer in die Schweiz zurück, um sich mit Porträtmalereien die nötigen finanziellen Mittel für einen Aufenthalt in Paris zu verdienen. Ein Jahr später zieht er dorthin und lässt sich an der Ecole des Beaux-Arts sowie an der privaten Akademie des französischen Historienmalers Alexandre Cabanel (1823–1889) weiterbilden. Bevor Meyer 1869 nach München zurückkehrt, ist er erneut als Bildnismaler in heimatlichen Gefilden tätig und erschafft 1867 die Büste der jungen Frau im vorliegenden Gemälde: Den Kopf hält sie leicht nach rechts geneigt und blickt mit melancholisch gestimmtem Blick aus dem Bild an uns Betrachtenden vorbei. Die auffallend blonden Haare werden von einer blauen Schleife zurückgehalten; das dekorative Element wiederholt sich in den Schulterpartien der beigen Kleidung. Ohren und Hals der Dargestellten zieren Perlohrstecker und eine dazugehörige Kette. Der feine Pinselduktus korrespondiert mit dem hellen Teint sowie der zarten Erscheinung der Dame, zusätzlich betont durch den dunklen Hintergrund.
Bei der Porträtierten handelt es sich um die Bella gerufene Emma Bruggisser (1838–1913), geborene Isler, festgehalten in ihrem 29. Lebensjahr. Sie entstammt einer Wohlener Fabrikantenfamilie, die in Europa und Übersee aus Stroh gefertigte Produkte vertreibt. In Bellas Vater, Jean Isler-Cabezas (1827–1897), findet Meyer einen wohlwollenden Mäzen, der seine eigene Familie sowie die seines Bruders vom Künstler porträtieren lässt. Allem Anschein nach ermöglicht die finanzielle Unterstützung des Strohindustriellen Meyer eine Existenz in München, da ihm dort die nötigen künstlerischen Impulse, die Unabhängigkeit und der Austausch mit anderen Kunstschaffenden zur Verfügung stehen. Den regelmässigen Kontakt mit Isler-Cabezas bestätigen überlieferte Briefe, in denen Meyer über seine Arbeit, den Verkauf von Bildern und seine Aktivitäten berichtet. Meyer führt das Leben eines erfolgreichen Malers: Er nimmt an unterschiedlichen Ausstellungen in Deutschland teil, pflegt aber weiterhin seine Beziehungen in die Schweiz und beteiligt sich auch hier an Ausstellungen. Gezielt arbeitet er für Schweizer Abnehmer und verschafft sich über den Kreis der Wohlener Familie hinaus im gesamten deutschsprachigen Raum Beachtung. Bereits zu Lebzeiten gelangen seine Arbeiten durch Kauf oder Schenkung in die Sammlungen von Schweizer Kunstmuseen. Hauptwerke wie „Touristen im Oberland“ (1873, Standort unbekannt) oder „Haslitalerin, von der Heuernte heimkehrend“ (1876, öffentliche Kunstsammlung Basel) befriedigen mit ihrem beschönigenden Realismus die Sehnsucht des städtischen Bürgertums nach einem ursprünglichen und vorindustriellen Leben. Bald nach seinem Tod jedoch wird der impressionistisch geprägte Geschmack vorherrschend und Meyers Schaffen gerät in Vergessenheit.
Karoliina Elmer