Holzschnitt auf Papier, 64.8 x 64 x 3 cm
Zu den zentralen Themen von Peter Emch (*1945) zählen psychologisch verdichtete Momente in der Beziehung von Paaren. Als das Museum Rietberg im Winter 2002/2003 an seinen beiden damaligen Standorten eine Übersicht zur Galanterie und Erotik zeigt, zieht es den Zürcher Zeichner und Grafikkünstler daher sofort dorthin. Im Hauptteil der Schau – in der Ausstellung „Liebeskunst. Liebeslust und Liebesleid in der Weltkunst“ – findet Emch sein Kernthema vielseitig beleuchtet. Ganz besonders bezaubern ihn aber die Blätter eines chinesischen Albums mit dem Siegel des am Hof der Kaiser Kangxi und Qianlong aktiv gewesenen Meisters Leng Mei (um 1669–1742). Anders als die bekannteren japanischen Shunga oder „Frühlingsbilder“ pflegen sie einen zwar expliziten, aber deutlich erzählerischen Ansatz. Vergleiche mit anderen Blättern des Meisters legen gar nahe, dass sie angesichts der aussergewöhnlich subtilen Erzählweise von der Hand eines jüngeren Künstlers stammen und Lengs Siegel des besseren Absatzes wegen nachträglich erhielten. Charmant ist namentlich, wie die Schüchternheit und Unerfahrenheit junger Paare zur Darstellung gelangt. Andere Szenen zeigen Bedrängnis, wieder andere favorisieren Dreierkonstellationen, etwa solche bei denen ein Voyeur – bei Emch eine häufige Figur – im Fokus steht.
Zwei der gezeigten Blätter sowie zwei weitere, auf die er bei vertiefenden Nachforschungen stösst, nimmt Emch in der Folge als Vorlagen für ein druckgrafisches Langzeitprojekt. Schon 2001/2002 hat er ausgesuchte Motive aus Kupferstichen des Renaissancekünstlers Martin Schongauer (1445–1491) in einen Zyklus schwarzweisser Holzschnitte übersetzt. Diesmal sind die Ausgangsmotive zarte, tonal verhaltene Tuschemalereien auf Seide, und so gestaltet Emch auch die Coverversionen farbig. Die Übertragung erfolgt dagegen neuerlich in der Technik des Holzschnitts. Trotz grosser Treue zum Original durchlaufen die Motive so eine erstaunliche Wandlung. Am markantesten ist, dass die Drucke spiegelverkehrt ausfallen, da Emch die Vorlagen gleichgerichtet xylografiert. Auch sind die Platten etwa um die Hälfte grösser. Einzelne Details erweisen sich aber trotzdem als zu filigran. Dem begegnet der Künstler meist mit einer leichten Simplifizierung. Nur bei der keuschen Hinterhofszene der Aarauer Blätter – ursprünglich ein Frühlingserwachen – weicht er auch inhaltlich ab und verlegt sie in den Winter. So nimmt er ihr zwar ihre Metaphorik, vermag dank den schneebedeckten Stellen aber neue effektvolle Wirkungen zu erzielen.
Tatsächlich rückt die erotische Begegnung neben dem Farbprogramm der Grafiken fast in den Hintergrund. Wohl bleibt die Absicht des Jungen erkennbar, den Blick des eng an die Fensterschranke gedrückten Mädchens mit einer vielsagenden, bei Emch noch expliziter gestalteten Geste auf sein Geschlecht zu lenken. Das amouröse Geschehen verkommt aber zur Anekdote, studiert man die delikaten Farbkombinationen, die Emch für die je acht Abzüge jedes der vier Motive definiert. Als Unikatreihe entstehend – Emch reibt die Bögen von Hand ohne Druckpresse ab – lassen sie ihm die Freiheit, gewisse Partien differenziert zu behandeln oder eine Farbe nur punktuell aufzubringen. So sind etwa beim hellsten Aarauer Blatt (D) die Kimonos beider Figuren im gleichen Farbton gehalten, während die anderen Versionen (B, C und H) dies zweifarbig lösen. Ähnliches ist manchmal bezüglich Figur und Grund auszumachen oder auch bei der Einfärbung der einzig verbliebenen Blüte im Bild unten links. Die stärkste Kraft geht indes von den fast monochromen Blättern aus, mit denen der Künstler auf die tonale Erscheinung der originalen Tuschemalereien zurückkommt. Wie einst der frühe Farbfilm, der Emotionen mit Hilfe von Hand- oder Schablonenkolorierung, Viragierung und Tonung lenkte, wecken sie eine bestimmte Atmosphäre, die sich mal leicht und träumerisch, mal dunkel und geheimnisvoll gibt.
Ihren Abschluss findet die 32-teilige Reihe nach dreijähriger Arbeit 2009. Noch im gleichen Jahr ist das ganze Konvolut, begleitet von einem schmalen Katalog, in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich zu sehen. Ausgestellt sind bei dieser Gelegenheit auch die vier wichtigsten Druckstöcke, die die Linienzeichnung enthalten. Einen davon – die Grundlage der ersten Motivserie – hat der Künstler dem Kunsthaus zu den vier Blättern, die 2013 aus dieser erworben werden konnten, hinzugeschenkt. Ebenso schenkte er dem Museum die drei zugehörigen Tonwertplatten, so dass Schritt für Schritt verfolgt werden kann, wie die erste Serie aufgebaut ist. Und da Emch diese Platten rückseitig für die Boudoir-Szene der zweiten Serie rezyklierte, ist – quasi als blinder Passagier – ein weiteres der vier Motive in die Sammlung gelangt.
Astrid Näff, 2022