Anagramm, Öl auf Leinwand, weiss grundiert, je 100.5 x 130.5 cm
André Thomkins (1930-1985) ist ein grosser „Meister im kleinen Format“, ein Bild- und Wortkünstler mit Beziehungen zu den unterschiedlichsten Bereichen künstlerischer Tätigkeiten. Der in Luzern geborene Künstler lebt lange im Ruhrgebiet, kommt 1978 zurück nach Zürich und stirbt 1985 in Berlin. Durch seinen grossen Freundeskreis (vor allem Künstler, Literaten, Architekten, Musiker, Theaterleute) ist André Thomkins der internationalen Kunst-Bewegung zwischen Fluxus und Intermedia sehr verbunden und beteiligt sich als stetiger Motor und Anreger an vielen Aktivitäten.
André Thomkins hat in den verschiedensten Medien und Gattungen gearbeitet. Er ist Zeichner und Maler, schafft kleine Objekte, ist Sprachkünstler und tritt als Musiker auf. Versuche, sein Werk als Ganzes zu fassen, scheitern nicht nur wegen der Quantität der Arbeiten, sondern auch weil Thomkins die Grenzen künstlerischer Genres radikal überschreitet und einen dezidiert offenen und prozessorientierten Werkbegriff entwickelt.
Der enge Bezug des Künstlers zur Sprache und zur Dichtkunst manifestiert sich schon sehr früh und offenbart sich zuerst in Bildtiteln und -unterschriften sowie in mehr oder weniger expliziten Bezügen zur Literaturgeschichte. Spätestens seit Mitte der 1950er Jahre beginnt André Thomkins ein eigenes sprachkünstlerisches Werk, das im Kontext der experimentellen Literatur dieser Zeit grosse Beachtung findet. Dazu gehören insbesondere seine Anagramme, die durch Umstellung der Buchstaben eines Wortes entstehen und seine Palindrome mit Wortgruppen, die sowohl von vorne wie von hinten gelesen werden können. Wortkunst vermittelt hier nicht primär bestimmte Inhalte, sondern zeigt sich vor allem als spielerischer Umgang mit Sprachmaterial zwischen Sinngebung und Sinnentleerung. Durch Verschiebungen entstehen überraschende Konstellationen und neue Zusammenhänge.
Dem vielfältigen Schaffen des Künstlers entsprechend nehmen die Textarbeiten unterschiedliche Formen an: Sie werden nicht nur in Zeichnungen integriert, sondern Thomkins entwickelt aus ihnen eigenständige Kompositionen; er erfindet „polyglotte Wortmaschinen“ und lässt Strassenschilder herstellen mit Palindromen wie „rue la valeur“ oder „oh cet echo“. Dass die zum Teil langen Reihen der Anagramme auch das Potential haben, vorgetragen zu werden, hat Thomkins Ende der 1960er Jahre entdeckt. 1979 tritt er im Rahmen der Konzert-Reihe „Selten gehörte Musik“ u.a. mit Dieter Roth, Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch und Attersee auf; 1981 erscheint im Dieter Roth-Verlag die LP Bösendorfer mit Lesung und Musik von André Thomkins. Die 10 Bildtafeln, die 2009 als Schenkung in die Aargauische Kunstsammlung kamen, zeigen eine Auswahl von Anagrammen auf das Wort „weitermalen“. Sie sind 1984 entstanden und dienten als Schautafeln einer performativen Lesung im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien. Dementsprechend werden sie hier nicht als isolierte Werke präsentiert, sondern in den Aufnahmen des Wiener Fotografen Didi Sattmann, der die Aktion dokumentierte.
Stephan Kunz