Öl auf Leinwand, 52 x 41.5 cm
Albert Anker (1831–1910) wuchs in Neuenburg als Sohn einer Familie auf, die zur ländlich-kleinstädtischen Oberschicht zählte. Er besuchte das Gymnasium und nahm 1851 auf Wunsch seiner Eltern ein Theologiestudium auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits Zeichenunterricht bei Frédéric Wilhelm Moritz (1783–1855) in Neuenburg genossen und in Paris Gemälde im Louvre kopiert. 1853 erhielt er vom Vater die Einwilligung für eine Ausbildung zum Maler, brach sein Studium ab, begab sich wieder nach Paris und wurde Schüler von Charles Gleyre (1855–1860). Bereits nach einem Jahr (1856) konnte er seine Werke regelmässig an den Ausstellungen des Schweizer Kunstvereins („Turnus“) und ab 1859 auch im Salon von Paris (bis 1885) zeigen. Ab 1860 teilte Anker seine Zeit und seine Arbeit zwischen Paris und seinem Geburtsort Ins, in dem er sich im elterlichen Haus ein Atelier einrichtete. Die beiden Orte bildeten von nun an in seinem Leben und in seinem ɶuvre zwei Hemisphären, die sich immer wieder und meist unauffällig verzahnen. Der Klassizismus, den er bei Gleyre kennengelernt hatte, durchdringt den von ihm erschaffenen Menschentypus, bis zu den in einfachster Kleidung gezeigten Kindern, die ihm seinen lautesten Ruhm, aber ebenso die kräftigste Kritik eingetragen haben. Ein Nachhall von Paris ist auch in den fein gedeckten Tafeln einiger seiner Stillleben spürbar oder in seinen mondänen Porträts. Die vom Barock kultivierten Standesunterschiede wurden in ihnen abgelegt und an ihre Stelle tritt eine Eleganz, in der die Unterschiede von arm und reich oder Stadt und Land ineinanderfliessen. Auf der anderen Seite stehen seine Schilderungen einer ländlichen Existenz, die wie die Kunde von einem untergegangenen Paradies in die grossstädtische Betriebsamkeit einer industrialisierten Gesellschaft hineinragen.
Vielleicht seine grössten Leistungen erbrachte Anker auf dem Gebiet der erzählenden Genremalerei, deren Themen meist auch ohne Legende verstanden werden und deren Personal mit der Genauigkeit und Tiefe eines Porträts ausgeführt sind. Jede Figur gibt zu erkennen, auf welche Weise sie am Geschehen teilnimmt und trägt zur Atmosphäre der geschilderten Szene bei. Dargestellt werden häufig Momente, in denen sich etwas Bewegendes im Leben der Menschen ereignet, doch wählt der Maler in der Regel einen Augenblick äusserlicher Ruhe, ein Innehalten der Akteure, einen Punkt, an dem das Geschehen stillzustehen scheint und doch Entscheidendes passiert. Die Brennpunkte dieser schlicht und ohne viel Aufhebens vorgetragenen Erzählungen werden durch die Komposition subtil unterstützt.
Die Grundlagen zu seinen grossen Kompositionen erwarb Anker durch ein unermüdliches Studium des Menschen, den er einzeln oder in kleinen Gruppen darstellte. Die Zeit, die er benötigte, um das Wesen einer Person zu erfassen, fand er am ehesten bei älteren Leuten und Kindern, die sich auf ihre Tätigkeit konzentrierten oder von ihr ausruhten, aber auch bei Erkrankten, Rekonvaleszenten und Schlafenden. Der regsame Mensch, der mitten in einem geschäftigen Leben steht, fehlt in Ankers Oeuvre fast vollständig.
Einige von Ankers kleinformatigen Werke mit der Darstellung einer Einzelfigur zeigen eine bloss typisierende Ausführung, ohne individuelle Gesichtszüge und ohne geistigen Ausdruck. Aber immer wieder verraten diese zwischen Genre und Porträt schwankenden Bilder eine Genauigkeit der Beobachtung und eine Beseelung, die zwar manchmal nur eine momentane Gefühlslage, häufig jedoch die Persönlichkeit der Dargestellten in aller Deutlichkeit wiedergeben. Einzelne dieser Figuren tauchen auch in den grösseren, aus mehreren Figuren aufgebauten Kompositionen Ankers auf. Eines der Gemälde, das sowohl den Rang eines selbständigen Werks für sich in Anspruch nehmen als auch Baustein für eine seiner sorgfältig aufgebauten Schilderungen des Landlebens sein könnte, ist das „Brustbild eines alten Bauern“ von 1885. Wie wenn es sich nur um eine Studie handelte, machte der Maler hier keinen Unterschied in der Behandlung von Haut und Gewand des älteren Mannes, beides könnte aus demselben Material bestehen. Aber die Haltung und der Ausdruck des Gesichts machen aus diesem unscheinbaren Bild ein einfühlsames und vollgültiges Porträt.
Hans-Peter Wittwer, 2020