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Wilhelm Lehmbruck, Mutter und Kind, Um 1917/18
Bronze, 52 x 35 x 18 cm, Plastik/Skulptur
Aargauer Kunsthaus Aarau / Legat Dr. Othmar u. Valerie Häuptli

Der in Duisburg geborene Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) zählt in der Kunstgeschichtsschreibung zu den bedeutenden Vertretern der expressionistischen Plastik. Als einziger deutscher Bildhauer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangt Lehmbruck bereits zu Lebzeiten internationales Ansehen. Dank der umfangreichen Werkgruppe deutscher Expressionisten aus dem Besitz von Dr. Othmar und Valerie Häuptli gelangen 1983 drei Bronzearbeiten als Legat in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.

Nach dem Besuch der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule studiert Lehmbruck von 1901 bis 1906 an der dortigen Akademie in der Meisterklasse Carl Janssens (1855–1927). Er beteiligt sich an Ausstellungen in seiner Heimat und auch in Paris, wo er von 1910 bis 1914 lebt. Die eklektizistischen Arbeiten aus dieser Phase zeugen von der tastenden Suche Lehmbrucks nach einer eigenständigen Formensprache, zu der er 1911 mit der Schaffung der Knienden durchdringt. Bereits in dieser Skulptur zeigt sich die Längung der Figuren als formales Merkmal seines Œuvres. Darüber hinaus verfolgt Lehmbrucks Gestalten die Absicht, innerer Bewegtheit Ausdruck zu verleihen. Er gelangt zu in sich gekehrten, verletzlichen Figuren, die im Gegensatz zu den emotional expressiveren Darstellungen des von ihm bewunderten Zeitgenossen Auguste Rodin (1840–1917) stehen.

Seit Abschluss seiner Studienzeit beschäftigt sich Lehmbruck wiederholt mit dem Thema von Mutter und Kind – sowohl in seinem bildhauerischen Schaffen wie auch in Zeichnungen und Radierungen. Die vorliegende Plastik entwickelt der Künstler während Vorbereitungen für eine Pietà, die an das Leid zahlreicher Mütter durch den Verlust ihrer Söhne im Krieg gemahnt. Es handelt sich um einen postum in Auftrag gegebenen Bronzeguss, da der Künstler selbst nur Steingüsse davon veranlasst hat. Im Unterschied zur Arbeit „Mädchenkopf auf schlankem Hals“ (vgl. Inv.-Nr. 3896), die sich aus der Weiterentwicklung einer Figur ergibt, ist „Mutter und Kind“ von Anfang an als Fragment geplant. Sie zeugt von der Fähigkeit des Bildhauers, sich in ausgesprochen sensibler Art und Weise auf den letztendlich einsamen Menschen einzulassen und zeigt in der Fragmentierung Lehmbrucks nonkonformistischen Beitrag zur formalen Behandlung der menschlichen Darstellung. Wie der Kunsthistoriker Hermann Beenken 1944 treffend bemerkt, „[fallen] im Schaffen Lehmbrucks das Problem der Gestalt (also Form) und Problem der menschlichen Existenz zutiefst in ein einziges zusammen…“ Indem Lehmbruck die beiden Figurenfragmente als einen Körper wiedergibt, erzeugt er eine eindrückliche Darstellung des unmittelbar spürbaren Einsseins von Mutter und Kind. Sind frühere Ausführungen der gleichen Figurengruppe von Glück gezeichnet, wandelt sie sich nach Kriegsbeginn zu einer Nähe im Schmerz: 1914 wird Lehmbruck zunächst als Sanitäter, später als Maler in den Ersten Weltkrieg eingezogen, bevor er 1916 vom Dienst befreit wird und nach Zürich zieht. Die Eindrücke der Gräuel prägen Lehmbruck nachhaltig und schlagen sich in seinem skulpturalen Schaffen als Ausdruck von Verzweiflung, Gebrochenheit und Tod nieder. Weder die Berücksichtigung einiger seiner Arbeiten im Kunsthaus Zürich 1917, noch eine Ausstellung zu seinen Ehren in der Basler Kunsthalle oder die Ernennung zum Mitglied der Preussischen Akademie 1919 vermögen Lehmbrucks Hoffnungslosigkeit zu mildern, und er wählt nach seiner Rückkehr nach Berlin den Freitod.

Karoliina Elmer

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