Öl und Lack auf Pavatex, 71.5 x 58.5 cm
Nach ein paar Jahren im Beruf des Buchhalters entscheidet sich der in Affoltern geborene Walter Grab (1927–1989) für ein Leben als Künstler. Ab 1948 unternimmt er Studienreisen nach Paris, München und Berlin, um seine autodidaktisch erworbene und beim Künstler Walter Jonas (1910–1979) vertiefte Kunstpraxis weiterzuentwickeln. In der französischen Metropole sucht er den Kontakt zur surrealistischen Kerngruppe, welche sich seit den 1920er-Jahren um den französischen Literaten André Breton (1896–1966) schart. Der „Walliser Bote“ zitiert Grab 1968 mit den Worten: “ als Zwanzigjähriger flüchtete ich nach Paris ins Eldorado der Kunst, (…) stiess auf Gemälde von Giorgio de Chirico, Salvador Dali, André Masson, René Magritte usw. Und da geschah etwas mit mir, irgendetwas tat sich in mir auf, wie eine Türe (…)“. Der gewonnene Zugang zur fantastischen und experimentellen Bildwelt des Surrealismus lässt ihn 1950 die Künstlergruppe „Phoenix“ gründen. Mitglieder sind neben deutschen und österreichischen Künstlern die Schweizer Surrealisten Kurt Seligmann (1900–1962), Otto Tschumi (1904–1984) und Ernst Maass (1904–1971). Grab wird Teil des international wieder aufflammenden, bereits tot geglaubten Surrealismus und erntet als Surrealist der Nachkriegsgeneration in der Schweiz und in Deutschland Anerkennung. 1965 vertritt er die Schweiz an der 8. Biennale von Saõ Paulo in der Ausstellung „Surrealismo e arte fantasticá“ zusammen mit Meret Oppenheim.
In der Bildmitte von „Das Böse“ schwebt ein hellblauer, vollmondartiger Kahlkopf mit grossen Augen und einem knallroten Mund. Das maskengleiche „Angesicht des Bösen“ ist von einem Kranz aus Stecknadeln bekrönt. Umschlossen wird es von schwarzen und goldenen Kreisen, Trapezen und Netzstrukturen sowie von blauen, grünen und roten Linien, die sich organisch winden und adergleich verästeln. Während die schwarzen Flächen unendliche Tiefen suggerieren, erinnern die geometrischen Formen an mobile Gestirne. Chaos und Ordnung, Formschönheit und unheimliche Symbolik verbinden sich zu einem spannungsvollen Ganzen. Das Gemälde entsteht 1952, in einem für Grab wichtigen Ausstellungsjahr: Erstmals zeigt er seine surrealistischen Werke öffentlich, etwa in der Galerie Palette in Zürich und in der von André Breton lancierten Ausstellung „Surrealistische Malerei in Europa“ in Saarbrücken. Bereits der Bildtitel verweist auf das surrealistische Anliegen, auch die Abgründe und bösen Seiten von Mensch und Gesellschaft mittels Sprache, Kunst und Psychoanalyse zum Vorschein zu bringen. Das Gemälde gelangt 1974 in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses. 2018 hängt es in der thematischen Überblicksschau „Surrealismus Schweiz“ neben apokalyptischen Darstellungen von Protosurrealisten wie Max von Moos (1903–1979), Walter Kurt Wiemken (1907–1940) und Kurt Seligmann. Die Art, wie Grab menschliche Figuren und abstrakte Zeichen zu filigranen Traumbildern verzahnt, ist unverwechselbar.
Das Leben in allen Gegensätzen zu zeigen – subjektiv, ungefiltert und tabulos –, dies ist das Credo der Surrealisten. Intuition, Assoziation, Zufall sowie das Reich des Unbewussten und des Traums dienen als Inspirationsquellen. Unbestritten bedient sich auch Walter Grab seiner ruhmreichen, doch auch düsteren Erfahrungswelt. Von seinen Zeitgenossen als Melancholiker und Choleriker beschrieben, nimmt sein Leben schliesslich aufgrund einer schmerzhaften Lungenkrankheit ein leidvolles Ende. Chaos, Zufall und Kontrollverlust lassen sich seinen surrealistischen Werken aber nicht attestieren. Im Gegenteil, die Malweise ist sauber, fast altmeisterlich, und selbst obskure Kompositionen wirken klar durchdacht. Vielleicht liegt gerade darin der Versuch, einer aus den Fugen geratenen (Innen-)Welt eine neue, imaginäre Ordnung zu verleihen.
Julia Schallberger