s/w Fotografie auf Karton, 16.5 x 29.8 cm
Das Vertraute und das Entfernte scheinen für Eva Wipf gleichermassen wichtig gewesen zu sein. Als Tochter eines Missionars 1929 in Brasilien geboren, wächst sie nach der Rückkehr der Familie 1934 in die Schweiz in Buch (SH) auf. Ihr geografischer Horizont reicht damals nicht weit. Nach einer abgebrochenen Lehre als Keramikerin in Thayngen wendet sie sich autodidaktisch der Malerei zu. Inspiration erfährt sie unter anderem von Adolf Dietrich (1877–1957), den sie öfters im nahegelegenen Berlingen besucht. Als ihre Familie 1949 nach Brasilien zurückkehrt, bleibt Eva in der Schweiz. Sie reist unter anderem nach Florenz und Amsterdam, wo sie sich eingehend mit der Kunst vom Quattrocento bis zum Barock befasst, um dann 1953 ein Atelier in der angesagten Künstlerkolonie an der Südstrasse in Zürich zu beziehen. Dort lernt sie im Kreise von Alis Guggenheim, Friedrich Kuhn, Mario Comensoli und anderen die bohèmehafte Gegenbewegung zu den Zürcher Konkreten kennen, was sie in der Weiterentwicklung ihrer eigenwilligen Kunst bestärkt, handkehrum aber auch ihre manisch-depressive Veranlagung nährt. Im Sommer 1978, nach vielen Jahren des Rückzugs und kurz nach ihrer Rückkehr von einer Reise nach Indien, bricht Eva Wipf in der Nähe ihres Hauses in Brugg tot zusammen.
Die Freundschaft mit der Fotografin Vergita Gianini weckt bei Wipf das Interesse für die Fotografie. Das einzige bekannte Zeugnis davon ist eine von den beiden herausgegebene Mappe mit 15 Vintage Prints, wovon zwölf von Wipf stammen. Sie berichtet darüber in einem Brief vom 19. Dezember 1957 an das Sammlerpaar Dr. Müller: „Diesen Sommer hat mir die Fotografin Vergita Gianini zufällig einmal gezeigt, wie man an einem Fotoapparat an den versch. Knöpfen dreht und drückt – und damit einen ganzen Stein ins Rollen gebracht – Denn seither ‘vermisst’ die Berufsfotografin ihre Rolleiflex – allerdings muss sie nicht weit suchen […] Ich freue mich, Ihnen hier nun einige meiner Erstlinge zeigen zu dürfen.“
Die Fotografien hat Wipf in Amsterdam und Umgebung geschossen. Sie vereinen die weite Landschaft mit dem grossstädtischen Leben, wobei sie beiden Motivtypen vergleichbare Qualitäten abringen, insbesondere lassen sie die in den Licht-, Wasser- und Fensterspiegelungen auftauchende unscharfe Grenze zwischen der sichtbaren Wirklichkeit und anderen, nicht fassbaren Realitäten aufscheinen. Denn Wipf blickt auf Orte, an denen sich Sein und Schein berühren: sei es, indem der Wolkenhimmel – statt über dem tiefen Horizont sich unendlich auszudehnen – als Spiegelung in den Flachgewässern in Szene gesetzt wird, sei es in den Schaufenstern, wo Innen- und Aussenraum sich treffen wie die Innen- und die Aussenwelten im Traum.
Damit schreibt sich Wipf in die Geschichte der surrealistischen Fotografie ein. Der experimentelle Charakter der Aufnahmen erinnert etwa an die Waadtländer Fotografin Henriette Grindat, die seit Ende der 1940er-Jahre in den Pariser Surrealistenzirkeln verkehrt, aber auch in der Schweiz mit ihrer Kunstfotografie und ihren Reportagen bekannt ist.
Auch wenn der Ausflug in die Fotografie in Wipfs künstlerischem Werk keine weiteren Spuren hinterlässt, werden die dort manifesten surrealistischen Bildverfahren sich fortan in Wipfs Malerei und der Collage niederschlagen. Und die fotografischen Motive mit den Puppen, Masken, Objekten und architektonischen Strukturen erweisen sich geradezu als Vorboten der späteren objekthaften Assemblagen, der Kästen und Schreine, in denen sich Welten begegnen und vereinen.
Peter Fischer