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Dieter Roth Björn Roth, Southern Comfort, Um 1985
mehrteilige Staffelei, diverse Materialien und Utensilien, 200 x 200 x 200 cm, Installation

Im Ausstellungsraum steht eine Staffelei, flankiert von einem Tischchen, dahinter verbirgt sich ein Stuhl. An die Wand sind unterschiedlich grosse, auf Leinwand aufgezogene oder gerahmte Fotografien angelehnt und aufgehängt. Überwuchert ist dieses Gebilde von allerlei Nippes wie Malutensilien, Polaroidfotografien, leeren Flaschen oder einem vertrockneten Blumenstrauss. Das alles überdecken mehrere Schichten Farbe, sowohl bewusst gemalt, als auch zufällig getropft und ausgelaufen. Wir sehen uns angesichts dieses verworrenen Stilllebens mit der klassischen Ikonografie des Künstlerateliers konfrontiert; die kreative Wirkungsstätte selbst – so scheint es – wurde ausschnitthaft in den musealen Kontext transferiert.

Das Atelier nimmt im Schaffen von Dieter Roth (1930–1998) eine zentrale Rolle ein. In ihm manifestiert sich die Einheit von Kunst und Leben, die Roth wie kaum ein anderer Kunstschaffender des 20. Jahrhunderts praktizierte, aufs Äusserste. Roth pflegt zeitlebens einen nomadenhaften Lebensstil, der mit dem zeitgleichen Unterhalt mehrerer Ateliers in der Schweiz, Deutschland und Island einhergeht, die ihm jeweils auch als Wohnort dienen. Ab den 1970er-Jahren entstehen vermehrt Werke bestehend aus Arbeitsutensilien und Alltagsobjekten, die den Künstler in seinen Ateliers umgeben – Ort und Werk verkörpern gleichsam eine Einheit. Im Sinn einer restlosen Verwertung ist kein Gegenstand zu banal, um Teil des Kunstwerks zu werden. Ihren Höhepunkt findet diese Strategie in der „Grossen Tischruine“ (ab 1970), einer monumentalen Assemblage, die von Roths Stuttgarter Schreibtisch aus akkumulativ über mehrere Jahrzehnte gewachsen ist und beispielhaft für seine prozessorientierte künstlerische Praxis steht. Ab Mitte der 1970er-Jahre entstehen viele dieser aufwändigen Werke in Zusammenarbeit mit Roths Sohn Björn (*1961), wobei „Southern Comfort“ das erste grössere Gemeinschaftswerk darstellt.

Das Künstleratelier ist seit jeher ein beliebter Darstellungsgegenstand der Kunst. Als Entstehungsort von Kunstwerken ist es von einer besonderen Aura umgeben. In ihm – so die tradierte Vorstellung – lässt sich das Mysterium des künstlerischen Schaffensprozesses und damit auch das individuelle Genie des Künstlers ergründen, das sich darin spiegelt: „Das Atelier steht für die Kunst, die Utensilien für den Künstler, der Künstler für den Schaffensprozess, das Produkt für den Künstler, der Künstler für das Atelier“ (Brian O’Doherty). Das Atelier auszustellen, wie Roth es hier tut, entspricht daher einem Akt künstlerischer Selbstdarstellung. Dass es sich bei „Southern Comfort“ und bei verwandten Werken jener Jahre nicht um zufällig festgehaltene Momentaufnahmen handelt – wie etwa bei Daniel Spoerris (*1930) „Fallenbildern“ –, sondern um eine inszenierte Situation, wird durch einen Blick auf die Fotografien im Hintergrund deutlich. Sie zeigen in einem Akt der Verdoppelung Ausschnitte aus den realen Stuttgarter Atelierräumen, in denen ebenjene Staffelei mit den gleichen Fotografien steht, die wir im Ausstellungsraum vor uns haben. Roth (re-)produziert hier anhand unterschiedlicher Medien ein ambivalentes Bild des Ateliers und – setzt man dieses mit der Künstlerpersönlichkeit gleich – seiner selbst. Der abwesende Künstler ist genauso wenig greifbar wie sein Atelier, das durch die im Raum arrangierten Objekte verkörpert wird. Vielmehr wird der kreative Arbeitsprozess als eigentlicher Gegenstand der Kunst deklariert, in dem sich Leben und Werk überlagern.

Raphaela Reinmann, 2018

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