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Heidi Widmer, Goya lässt sicher leben (aus der Serie "im Dialog mit Goya"),
Bleistift auf Papier, 29.8 x 21 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Matthias Dieterle

Aus der Sammlung des Aarauer Lyrikers Matthias Dieterle durfte das Kunsthaus 2020 eine grössere Gruppe von Papierarbeiten übernehmen. Die Schenkung im Umfang von drei Dutzend Blättern beinhaltet Werke von Rudolf Urech-Seon (1876 – 1959), Jan Hubertus (1920 – 1995) und Heidi Widmer (*1940) – drei Kunstschaffende unterschiedlichen Alters und Stils, die jedoch alle durch ihre Nähe zum Schenkgeber verbunden sind. Den Hauptteil der Neuzugänge machen mit 16 Bleistiftzeichnungen und einer Gouache die Werke der Wohlener Künstlerin Heidi Widmer aus. Die Arbeiten umspannen den Zeitraum von 1961 bis 1990 und stellen ideale Ergänzungen dar zu den regen Ankäufen der 1960er- und 70er-Jahre sowie zur Auswahl leuchtender Gouachen, die 2017 dank dem Legat von Alt-Regierungsrat Arthur Schmid in die Sammlung gelangt ist.

Schon das früheste neu hinzugekommene Blatt – die kurz nach dem Wechsel von der Genfer Ecole des Beaux-Arts an die Accademia di Belle Arti in Rom entstandene Szene „Existenzielles Dilemma“ (1961) aus dem Zyklus „Esistono, e basta“ – lässt erkennen, dass der Mensch und sein Ringen stets im Zentrum von Widmers Bildwelten stehen. Oft ist der Blick auf ein reales Gegenüber gerichtet. Oft trifft man aber auch auf Szenen, deren Protagonisten winzig, isoliert, ausgesetzt oder schemenhaft in fantastische, dies- und jenseitige Räume integriert sind: Orte, die Widmer bereist und eindringlich transponiert hat, aber auch fiktive Schattenreiche mit hellen Schwellen als Metaphern geheimnisvoller Ab- und Urgründe.

Widmers Ein- und Abtauchen in die Essenz des menschlichen Seins findet jedoch nicht nur auf der Motivebene statt. Grossen Anteil an der Intensität ihrer Kunst hat gerade bei den Bleistiftzeichnungen auch die Technik. Mit energischem Strich wird das Blattweiss verjagt und zu tiefem Schwarz oder Grau verdichtet. Jeder Zug bleibt sichtbar und gibt den Szenen ihre expressive Kraft. Bei aller Rohheit besitzt dies eine altmeisterliche Virtuosität – besonders in Verbindung mit den wegradierten Lichtbändern, die Widmer geradezu signaturhaft wie materialisierte Fäden des Schicksals um ihre Figuren herum anlegt. Wo dies bei einigen Blättern an ungenannte Vorbilder wie Piranesi oder Daumier erinnert, wird Widmer andernorts deutlicher. Schon 1969 begeistert sie sich in New York für Goya und reiht ihn als geistesverwandt in ihr Heldenpantheon ein. Jahre später, um 1990, entwickelt sich daraus – mit Matthias Dieterle als Anstifter – ein deklarierter Dialog, der im Schenkungskonvolut gleich dreifach präsent ist. So liefert das Querformat „Goya. Mitbewohner im Haushalt des Ich’s“ ein Beispiel für die geteilte Empathie für die Menschen. Die zwei Hochformate hingegen scheinen eher trotzige Furchtlosigkeit zu vermitteln. Goya lernt sich erheben – eine freie Adaption des Blattes Modo de volar aus Goyas Radierfolge Los disparates – könnte dabei auch als Abbild für Widmers eigene Unbeirrtheit stehen: Donde hay ganas hay mana lautet der posthume Zweittitel, den Goyas Vision des Vogelmenschen 1864 erhielt – wo ein Wille, da ein Weg.

Astrid Näff

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