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Andres Lutz Anders Guggisberg, Vogel Mordor, 2002
Holz, Faden, Drahtgeflecht, Styropor, Flechten, Asphaltlack, Wattestäbchen, Klebstreifen, Metallschrank, 275 x 180 x 90 cm, Plastik/Skulptur
Aargauer Kunsthaus Aarau

In seiner mächtigen Urgestalt sitzt der „Vogel Mordor“ auf unerreichbar hohem Schrank – scheinbar direkt aus dem Reich der Mythen kommend. Der Kontrast könnte nicht grösser sein zwischen dem bürograuen Aktenschrank als Inbegriff einer geordneten Welt und dem archaischen Vogel, der wie ein Alb sich niederlässt, bereit, gleich wieder wegzufliegen und seine zauberhaft hellblau leuchtende Beute an einen andern Ort zu bringen. Andres Lutz (*1968) & Anders Guggisberg (*1966), das seit 1996 zusammenarbeitende Künstlerduo aus Zürich, haben alles daran gesetzt, dass ihr Vogel als Bote aus einem fernen Reich erscheint: Sie haben ihn zum Schrecken aller Museumsrestauratoren aus Tand und Trödel und Moos und Flechten gebaut und ihm so manches Relikt angehängt, auf dass er seinem Namen alle Ehre erweise: „Mordor“ ist das schwarze Land in J.R.R. Tolkiens Fantasy-Klassiker Herr der Ringe, auch das Land des Schattens oder das Land des Schreckens genannt.

Zum künstlerischen Selbstverständnis von Lutz & Guggisberg gehört es, in Ausstellungen ihre Werke nicht als fixfertige Objekte zu präsentieren, sondern immer wieder neu in Szene zu setzen. So nahm der „Vogel Mordor“ mit zwei artverwandten Fabelwesen 2002 Besitz der Galerie Friedrich in Basel und das gleiche infernalische Trio erschien dann wieder (erneut vereint unter dem Titel „I will rest in pieces“) in der Ausstellung im Aargauer Kunsthaus 2008 – diesmal in einem ganz dunklen Raum, wo die Vögel nur erahnbar waren, dafür aber als dämonische Schattenwesen umso unheimlicher wirkten. Aus dieser Ausstellung konnte der „Vogel Mordor“ für die Aargauische Kunstsammlung erworben werden. Und so vielversprechend uns als Schülern die ausgestopften Wildtiere auf den biederen Schulschränken vorkamen, so anarchisch und freiheitsliebend sitzt das tolkiensche Ungetüm jetzt in den Depoträumen des Aargauer Kunsthauses, darauf wartend, seine Ehrfurcht erregenden Schwingen dereinst wieder im Museumsraum auszubreiten.

Immer wieder lässt sich bei Lutz & Guggisberg beobachten, dass der schöne Schein einer heilen Welt aufbricht und sich unbekannte Mächte manifestieren, die das Vertraute stören und ganz andere Realitäten zum Vorschein bringen. Besonders deutlich war das auch in der Aarauer Ausstellung, wo ein Büro, eine Wohnlandschaft sowie eine Bibliothek eingerichtet waren und ein Schrebergarten den imaginären Bewohnern Ausgleich schaffen sollte. Aber unter dem Schreibtisch türmten sich keimende Kartoffeln, die Wohnlandschaft war von unzähligen kleinen Wesen belebt und in der Bibliothek liessen die Künstler ihre Coverversionen von Klassikern der Weltliteratur ins Absurde kippen. Im Schrebergarten schliesslich erblühte die Fantasie und offenbarte das wahre Gesicht hinter aller Maskerade – dahinter lag nur noch das dunkle Reich der Schatten und des Schreckens mit dem „Vogel Mordor“, mit „Alpaar“ und dem stolzen Holzfalken. In dieser Welt fand mancher Vogel von Lutz & Guggisberg seinen Platz. Vögel dominieren ohnehin das Werk dieser beiden Künstler – sie sind das Wappentier ihrer Imagination und erscheinen als besonders beredte Geister sowohl dämonischer als auch ganz freundlicher Mächte.

Stephan Kunz

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