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Martin Disler, Ohne Titel, 1995
Monotypie, 137 x 70 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: Irene Grundel, Grenaa (DK)
Fotocredit: Brigitt Lattmann

Im Nachhinein lässt sich in der Zeit um 1986, da Martin Disler (1979–1996) mit der Arbeit an den Gips-Plastiken beginnt, nicht nur ein Umbruch in der Werkentwicklung, sondern auch in der Rezeption feststellen. Mitte der 1980er-Jahre war er ein veritabler Star, danach wurde es schwieriger: Die Epoche der Wilden Malerei, der Disler undifferenziert zugerechnet wurde, war vorbei, die Rezeption tat sich zunehmend schwerer mit seiner Position, zumal das Werk sich in Richtungen weiterentwickelte, für die sich nicht mehr so leicht ein Kontext finden liess.
Die 1984 in Paris begonnene und 1985 mit starker Beachtung präsentierte Werkgruppe der Ölbilder wird 1986 abgeschlossen, am Ende der so erfolgreichen Phase steht als letztes das grossartige Bild „Garten der Lüste“. Es wurde im Sommer 1986 in Samedan im Oberengadin gemalt, wo Disler Ende 1985 hingezogen war, und es ist das grösste Format dieser Gruppe: das Bild von fast vier Metern Breite konnte nicht auf einer einzigen Leinwand bewältigt werden.

Mit dem Titel „Garten der Lüste“ bezieht sich Martin Disler ausnahmsweise auf ein Werk aus der Kunstgeschichte, auf das bekannte Gemälde von Hieronymus Bosch (1450–1516). Disler übernimmt den Titel, und sein Bild handelt auch vom im Grunde selben Inhalt, oder besser: Gehalt. Boschs rätselhaft fantastisches Gemälde erzählt bilderreich von der reinen Liebe ebenso wie von deren bizarren Perversionen, von der paradiesischen Unschuld ebenso wie von Katastrophen, sein Bild ist bevölkert von makellos schönen jungen Menschen ebenso wie von höllisch und grotesk verwachsenen Gnomen und Tiermenschen. Von all dem erzählt Dislers Bild nichts und doch ist dieses ganze Welttheater in der Bildwelt des Malers aufgehoben. Während Boschs Komposition extrem detailreich ist, handelt es sich bei Dislers „Garten der Lüste“ um eine der grosszügigsten Kompositionen in der Werkgruppe der Ölbilder. Der weibliche Körper setzt sich in seiner roten Farbe ab vom anderen Bildgeschehen, ist nicht, wie in den Bildern von 1984, Teil des die ganzen Bildflächen überziehenden Gewuchers: Die Frau liegt über dem Chaos des Grundes, hebt sich, auch wenn sie partiell mit Farbspuren des Grundes überstrichen ist, davon ab, wird aber von jenem ringsum bedrängt. Allerdings ist im Grund kaum Figürliches auszumachen, der Frauenkörper wird vielmehr umfangen und berührt oder angemacht von reiner Malerei. Das Bildgeschehen im Grund ist abstrakter als in den früheren Ölbildern, mit seiner stark mit grün durchsetzten Farbigkeit assoziiert man zusammen mit dem Titel tatsächlich auch einen Garten. Das Bild bleibt in der Schwebe, wirkt zum Teil düster und strahlt doch eine Gelassenheit aus.

Näher an die reine Ungegenständlichkeit ging Disler nie: es ist, als ob sich der magmatische Bildgrund, über den sich im Garten-Bild der rote Frauenkörper ausbreitet, verselbständigt hätte. Obwohl hier auf jede inhaltliche Lesbarkeit verzichtet wird, findet sich im wilden, ungegenständlichen Chaos dieser Malerei verdichtet und aufgehoben, was diesen Menschen und Maler bewegt, um- und angetrieben hat. Mit „Garten der Lüste“, dessen Titel auch über dem ganzen Werk oder über einer retrospektiven Ausstellung seines Schaffens stehen könnte, findet der Teil des Werkes von Martin Disler, der ihm die stärkste internationale Beachtung brachte, einen überzeugenden und grossartigen Abschluss.

Bereits 1979, ein Jahr bevor Martin Disler mit seiner Ausstellung in der Kunsthalle Basel schlagartig berühmt und zu einer der Schlüsselfiguren der Kunst der frühen 1980er-Jahre wurde, hatte mein Vorgänger in der Leitung des Kunsthauses, Heiny Widmer, drei wichtige frühe Werke des Künstlers erworben. Danach, bis zur posthumen, zehn Jahre nach dem Tod des Künstlers von uns organisierten Retrospektive, wurde die Disler-Werkgruppe zielgerichtet ausgebaut. Im Anschluss an unsere Retrospektive und als Anerkennung für unseren Einsatz für den mittlerweile etwas vergessenen Künstler wurde dem Aargauer Kunsthaus aus dem Nachlass, von Irene Grundel, der Witwe des Malers, „Garten der Lüste“ geschenkt sowie, von einem befreundeten Sammler, das Bild „Blick aufs Meer“ von 1979 (erstmals gezeigt in der Basler Ausstellung 1980). Mit diesen grosszügigen Schenkungen und der Erwerbung einer Gruppe von fünf späten Monotypien von 1995 konnte die Werkgruppe dieses ausserordentlichen Malers letztes Jahr noch einmal sehr qualitätvoll ausgebaut und gültig abgerundet werden.

Beat Wismer

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