S/w-Fotografie auf Papier, 24 x 17.5 cm
Das fotografische Œuvre von Binia Bill (1904–1988) ist heute nur wenigen bekannt. Lange Zeit vor allem als Ehefrau des Malers, Plastikers und Architekten Max Bill (1908–1994) bekannt, die dessen Arbeiten sowie den Kreis um die Zürcher Konkreten dokumentierte, schuf Bill in den 1930er-Jahren ein äusserst eigenständiges Werk, das von der Auseinandersetzung mit aktuellen Zeitfragen der Fotografie zeugt. Die 2004 im Aargauer Kunsthaus gezeigte Ausstellung „Binia Bill – Fotografien“ gehört zu den seltenen Bestrebungen, dieses Konvolut einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Dank einer Schenkung von Chantal und Jakob Bill sind 2007 fünf Fotografien in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses eingegangen.
Bills Auseinandersetzung mit der Fotografie ist von relativ kurzer Dauer, dafür aber von starkem Ehrgeiz und Selbstbewusstsein geprägt. Nach einer Ausbildung zur Cellistin in Paris besucht Bill 1930 ein Semester lang die Itten-Schule in Berlin. Dort studiert sie bei Lucia Moholy, deren sachliche und reduzierte Bauhaus-Ästhetik ihr eigenes Schaffen massgeblich beeinflusst. Zurück in Zürich ist Bill zunächst vor allem im Rahmen von Werbeaufträgen fotografisch tätig, die sie in Zusammenarbeit mit Max Bill ausführt; ab 1934 verfolgt sie vermehrt ihre freie künstlerische Arbeit. Viele Aufnahmen entstehen im von Max Bill erbauten Atelierhaus in Zürich-Höngg, wo sich Binia Bill eine Dunkelkammer einrichtet. Neben Porträts von sich selbst und ihrem Mann gehören Stillleben zu den Hauptmotiven von Bills Fotografie, darunter besonders Blumen und Blätter.
Anhand der Fotografie „Zwei Orchideenblüten (Phalaenopsis) auf dunklem Grund“ lässt sich beispielhaft nachvollziehen, wie Bill mit sparsamem Einsatz künstlerischer Mittel und strenger Komposition Bilder erschafft, die von der Spannung zwischen akribischer Naturabbildung und formalästhetischer Inszenierung leben. Vor dunklem Hintergrund treten hell zwei Orchideenblüten hervor, die jeweils eine Bildhälfte einnehmen – die untere zeigt die Blüte von vorne, die obere von hinten. Horizontal zweigeteilt wird das Bildfeld durch den Stiel der Pflanze, an dem die obere Blüte befestigt ist. Einer wissenschaftlichen Lehrbuchabbildung ähnlich sind die Blüten aus dem Gesamtzusammenhang der Pflanze herausgelöst und in ihrem Detailreichtum erkennbar gemacht. Gleichzeitig wird den Blüten durch den schwarzen Hintergrund sowie die linksseitige Lichtführung eine körperlich-plastische Qualität verliehen, die an eine Porträtfotografie gemahnt. Die Blüten werden hier in ihrer reinen Form wiedergegeben. Mit dieser klaren, sachlichen Ästhetik, welche die Beschaffenheit des fotografierten Gegenstands in den Vordergrund stellt und das Sujet gleichzeitig durch inszenatorische Mittel ein Stück weit abstrahiert, steht Bills Fotografie dem Bauhaus und der Sachfotografie nahe. Als Mitwirkende an der Wanderausstellung des Schweizerischen Werkbunds zur „neuen fotografie“ 1932 bis 1933 war die Künstlerin Teil einer zu dieser Zeit erstarkenden Bewegung, welche die gängigen Regeln des Metiers auf den Kopf stellte, indem sie sich auf die elementaren Mittel der Fotografie und eine objektive Darstellungsweise konzentrierte – ganz in Abgrenzung zur damals vorherrschenden piktorialistischen Fotografie mit ihren romantischen, weich gezeichneten Bildern. Bis zum abrupten Rückzug aus der Fotografie im Jahr 1942 leistete Binia Bill damit einen wichtigen Beitrag zu einem neuen, modernen Verständnis der Fotografie in der Schweiz.
Raphaela Reinmann, 2019