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Miriam Cahn, Kleines weibliches Durcheinander (9-teilig), 1982
Kohle auf Seidenpapier, 200 x 200 cm, Arbeit auf Papier
Aargauer Kunsthaus Aarau

Miriam Cahn (*1949) zählt zu den wichtigsten Vertreterinnen der neueren Schweizer Kunst. Das Aargauer Kunsthaus widmete ihr 2015 die umfassende Einzelausstellung „körperlich – corporel“. Cahn erlangt in den 1980er-Jahren mit grossen, expressiven Schwarzweisszeichnungen nationale und internationale Bekanntheit. Die Technik der Zeichnung, die in der Schweizer Kunst zu dieser Zeit wieder vermehrt an Bedeutung gewinnt, dient der Künstlerin dabei als Mittel, um sich einerseits gegen die klassische Malerei zu positionieren und andererseits um eine stark expressive, spontane Bildsprache zu entwickeln, die von der Unmittelbarkeit und Offenheit des Mediums lebt. Mit vollem Körpereinsatz bringt die Künstlerin am Boden liegend, sitzend und kauernd Darstellungen aufs Papier, die von der Auseinandersetzung sowohl mit dem eigenen Körper als auch mit den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen des Frau- und Mannseins künden. Damit gehört Cahn in den 1980er-Jahren gemeinsam mit Martin Disler (1949–1996), Josef Felix Müller (*1955) und Klaudia Schifferle (*1955) zu den Hauptakteurinnen und -akteuren einer künstlerischen Strömung, die herausfordernde und tabuisierte Themen wie Sexualität, Körperlichkeit, Gewalt und Tod mit neuer Direktheit anspricht und in einer gestischen Ausdrucksweise verbildlicht.

Schon früh entwirft Cahn anhand einfacher Motive ein gestalterisches Grundvokabular und kreiert ihre persönliche Ikonografie, die sie in den folgenden Jahrzehnten beibehalten und ergänzen wird. Zentral ist dabei die Unterteilung jedes dargestellten Gegenstands als entweder dem weiblichen Bereich des Privaten oder dem männlichen Bereich des Technischen zugehörig. Wie der Titel suggeriert, finden sich in „Kleines weibliches Durcheinander“ jene Zeichen versammelt, die Cahn dem Weiblichen zuordnet. Auf neun als Block zusammengefügten Einzelblättern entwirft die Künstlerin mit dicken, ungestümen Strichen eine beklemmende Darstellung der weiblichen Domäne: Stuhl, Haus, Tisch, Wägelchen und Bett – gerade noch als solche erkennbar – markieren die häusliche, traditionellerweise mit der Frau assoziierte Sphäre. Demgegenüber steht in anderen Werken eine von Technologie und Mobilität gekennzeichnete männliche Motivwelt mit Kriegsschiffen, Wolkenkratzern und Raketensilos. Die Loslösung der Möbelstücke aus dem häuslichen Kontext heraus und deren grobe – um nicht zu sagen gewaltvolle – Wiedergabe entbehren jedoch jeglicher Behaglichkeit. Auch die aufs Rudimentärste reduzierten Gesichter auf den Blättern in der unteren Reihe – teils fratzenhaft verzerrt, teils fast vollständig schwarz verdichtet –, deren kreisrunde Augen die Betrachtenden leer anstarren, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung einer mit Lieblichkeit und Schönheit konnotierten Weiblichkeit. Vielmehr drückt sich in der bedrohlichen Qualität der Darstellung ein Unbehagen gegenüber dem bestehenden Bild der Frau sowie den gängigen Rollenzuschreibungen aus.

Bereits Ende der 1970er-Jahre notiert Cahn: „ich zeichne ‛frausein’“. Ihr gesamtes Schaffen widmet sie der Suche nach einem neuen Bild der Frau jenseits aller Idealisierungen, um gleichzeitig die eigene Identität als Künstlerin zu befragen. In diesem Sinne ist nicht nur der Bildinhalt, sondern auch der performative Zeichenprozess selbst als feministische Positionierung zu verstehen: „ich arbeite am boden: noch weniger kontrolle, kein zurücktreten in malerpose und ‛korrigieren, verbessern’ hin zum meisterwerk, zum endgültigen, zum ‛besten’, zum männlich orientierten ‛genialen’; ich arbeite am boden, um alles zu vergessen. um nichts zu sehen, um nahe zu sein, um zu persönlich, zu weiblich, zu alles, was in der kunst verpönt, verboten ist: ich lehne die distanz ab.“

Raphaela Reinmann, 2018

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