Fotografie s/w, weisses Wachs auf Glas, 142 x 292 cm
Drei Hauptkomponenten bestimmen die Arbeit „Hémisphère“ von Silvie (*1935) und Chérif Defraoui (1932¬–1994): eine Schwarzweissfotografie, ihre eigenwillige Behandlung und der Titel. Auf dem riesig abgezogenen Barytprint ist auf die Schnelle nur ein grosser heller Fleck vor schwarzem Grund zu sehen. Nicht ganz rund und etwas hubbelig füllt er das Panoramaformat in ganzer Höhe. Über dieses Motiv schiebt sich in Längsrichtung ein milchiger Streifen: eine dünne Schicht Wachs, die so auf die Innenseite des Rahmenglases aufgebracht wurde, dass sie die Bildfläche exakt halbiert – oben schwarz, unten weiss. Wo das Wachs auf dunkle Partien zu liegen kommt, erfolgt eine Positiv-Negativ-Umkehr, wo es helle Partien bedeckt, bewirkt es eine Eintrübung, wo Glas und Papier sich berühren, entsteht Transparenz. Man mag dabei an die Frühgeschichte der Fotografie denken, als belichtete Papiere mit flüssigem Wachs so behandelt wurden, dass sie als Negativ dienen konnten. Auch an die Urfunktion eines Negativs, Dinge konträr zu ihrer äusseren Erscheinung festzuhalten und diesen Akt der Bewahrung in Absenz des eigentlichen Gegenstandes – ex negativo – zu leisten, sei erinnert; allerdings kommt dem Wachs dabei in der Regel nur eine unterstützende Rolle zu. Silvie und Chérif Defraoui nutzen das fügsame Material hingegen um seiner selbst willen. Sowohl ästhetisch als auch methodisch knüpfen sie damit letztlich bei der Enkaustik an, einer antiken Maltechnik auf der Basis von Wachs. Schon bei mehreren Vorgängerserien griffen sie zu Bienenwachs, Weisswachs oder partiell mattiertem Acrylglas, um damit Fotografien von Bauten („Les frontières de l’ordre“, 1988), tropischen Früchten („Cires“, 1988-89) und metaphorischen Landschaften zu überziehen („Stations de l’océan“, „Marines“ und „Paysages“, 1991). Immer ging es dabei um den Schleiereffekt, der eine gewisse Verfremdung provoziert, aber auch sublimierend wirkt.
Bei der Vierergruppe der „Hémisphères“(1993), zu der das Aarauer Werk gehört, ist das Motiv abstrakter. Aber auch hier kontrastiert die weiche Textur der Wachsschicht mit der scharfen Linie, die sie begrenzt und die Bildfläche zweiteilt. Dies bringt einerseits Fragen der Geometrie ins Spiel. Andererseits – und weit wichtiger – führt es vor, wie das menschliche Auge darauf trainiert ist, eine waagerechte Linie, so abstrakt sie auch sein mag, sofort als Horizont, ein Querformat als Landschaft zu interpretieren. Der Werktitel „Hémisphère“ legt hier nach, indem er die Zweiteilung des Bildes auf das Motiv überträgt. Aus dem rauhen Fleck, der sich bei näherer Betrachtung als verputzte Fläche im elliptischen Lichtkegel einer Lampe herausstellt, wird auf diese Weise wie bei Leonardo da Vincis Bekenntnis zur versteckten Entwurfsqualität einer fleckigen Mauer eine imaginäre Landschaft. Ein Mondaufgang vielleicht. Oder vielmehr der bislang nur Wenigen vergönnte und trotzdem tief ins Erinnerungskollektiv eingebrannte Anblick des Erdaufgangs über der gleissend hellen Oberfläche des Mondes. Der Begriff Hemisphäre wäre dann wörtlich zu nehmen: Nord- und Südhalbkugel, Osten und Westen, Tag- und Nachtseite.
Antagonismen wie diese machen die „Hémisphères“ zu typischen Werken von Silvie und Chérif Defraoui. Und auch der Titel selbst unterstreicht das duale Prinzip, das ihr ganzes Denken durchwirkt. Ihr Etikett als Pioniere der Schweizer Medienkunst und ihr Gewicht als Dozenten an dem von ihnen gegründeten Atelier Média Mixtes an der École Supérieure d‘Art Visuel in Genf verdanken sie ebendiesem Ansatz, die Welt sowie ihre kulturellen und interkulturellen Codes aus vermeintlich unvereinbaren Blickwinkeln zu sehen. Immer wieder prallen in ihrem Metaprojekt „Archives du futur“, in das seit 1975 alle Arbeiten eingehen, Raum und Zeit überspannende Fakten und subjektives Sehen aufeinander. Immer wieder verschieben sich so Wahrnehmungsgrenzen und ergeben sich Erkenntnisse aus den Sinnschichten einer Projektion.
Astrid Näff