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Niki de Saint Phalle, Je t'aime, 1971
Lithographie auf Papier, 49.2 x 64 cm, Druckgrafik

Am 13. Juli 1971, sechzehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung und seit elf Jahren ein Paar, heiraten Niki de Saint Phalle (1930–2002) und Jean Tinguely (1925–1991) in Soisy-sur-Ecole, ihrem damaligen Wohnort rund eine Fahrstunde südlich von Paris. Im gleichen Jahr entsteht die Lithografie «Je t’aime». Unübersehbar hat die Künstlerin die Liebeserklärung, die dem Blatt seinen Titel gibt, mitten im Bild in eine Sprechblase gesetzt. Wie das kräftig pulsierende Herz, das über allem schwebt, dürften die drei magischen Worte und somit auch die Lithografie mit dem privaten Ereignis im Zusammenhang stehen.

Bezeugt wird das Ja durch ein Stelldichein tanzender Nanas und weiterer Figuren. Die Stimmung ist fröhlich. Der Zorn, den Niki de Saint Phalle losgelöst von ihrer glücklichen ersten Ehe mit Harry Mathews und ihrer zweifachen Mutterrolle in ihren Assemblagen zum Thema Heirat und anderen patriarchalen Erwartungen bis 1965 verarbeitet, ist abgelegt. Verkörpert wird die positive Energie aber nicht allein durch die bunten, prallen Nanas in Lingerie, Badeanzügen und kurzen Röcken, die seither den Kosmos der Künstlerin als agile Botschafterinnen selbstbewusster Weiblichkeit bevölkern. Versatzstückartig geht auch im zeichnerisch-grafischen Schaffen aus wiederkehrenden Motiven allmählich eine begleitende Ikonografie hervor. Unter den Lithografien steht das Blatt «Je t’aime» dabei eher am Anfang. Vergleiche mit den seit 1968 im Druckatelier von Noëlle und Albin Uldry in Ostermundigen bei Bern entstehenden Serigrafien lassen für einige Sujets aber schon Deutungen zu. So ist zum Beispiel beim Blatt «Lettre d’amour à mon amour» (1968) der Sonne die Aussage «Tu es mon soleil» hinzugefügt, während die Hand durch den Satz «Je te donne ma main» als Geste bedingungslosen Vertrauens lesbar wird. Nachdenklicher klingt es in Niki de Saint Phalles erstem gezeichneten Buch «Please give me a few seconds of your eternity», das im Oktober 1970 bei ihrem langjährigen Galeristen Alexandre Iolas erscheint. Mit Ausnahme des doppelköpfig-symbiotischen Wesens und des Vogels sind in dem 36-seitigen Ringbuch sämtliche Motive von «Je t’aime» versammelt. Frei von Euphorie sind sie dort aber mit Sorgen und Verlustängsten zusammengedacht. So fragt sich die Künstlerin etwa nach dem Grund für den Tod von Blumen und Vögeln. Oder auch vorahnungsvoll: «Why must love die?»

Der bislang einzigen, knappen Übersicht zufolge, die Dominique Chenivesse und Brigitte Kühn 1980 zu Niki de Saint Phalles Druckgrafiken erarbeitet haben, soll die Künstlerin in diesen stets nur zufällige und überdies vielfach von Dritten angestossene Nebenprodukte gesehen haben. Bei «Je t’aime» scheint dies durch die Motivüberschneidung mit dem Buch bestätigt. Später helfen die Blätter dann wie das Parfum sowie die Kleinskulpturen und dekorativen Objekte, von denen Niki de Saint Phalle in einem ihrer 1992 zur Retrospektive in Bonn verfassten «Lettres» an wichtige Weggefährten spricht, kostspielige Grossprojekte, speziell den 1978 begonnenen Tarot-Garten in der Toskana, zu finanzieren. Zuweilen erlaubt die Popularität der Künstlerin dabei auch ungewöhnlich hohe Auflagenzahlen. Bei «Je t’aime» macht laut Chenivesse/Kühn eine Folge von 50 Exemplaren den Anfang. Auf dem Kunstmarkt zirkulieren aber auch Blätter aus nummerierten und handsignierten Auflagen von 200 und 400 Exemplaren. Wie fast alle Lithografien der Künstlerin entstehen die Sechsfarbendrucke im traditionsreichen Atelier Clot, Bramsen & Georges in Paris. Als Herausgeber agiert der Galerist, Autor und Verleger Gerhard Habarta in Wien. Habarta, Spezialist für surrealistische und phantastische Positionen, ist es schliesslich auch, der in Kooperation mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und dessen Europa Verlag – ursprünglich ein Ableger des legendären gleichnamigen Zürcher Verlags von Emil Oprecht – eine Grossauflage von 5400 Exemplaren ediert. Diese Blätter, zu denen auch das Aarauer Exemplar zählt, sind zwar nur stempelsigniert. In der Radikalität ihrer Absage an jede Form von Verknappung in Zeiten qualitativ nahezu verlustfreier Reproduktion sind sie dafür ein starkes Plädoyer für die Demokratisierung der Kunst.

Astrid Näff, 2023

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