Öl auf Leinwand, 86.2 x 100.5 cm
In „La séance de peinture“ geht die grösste Anziehung vom Aktmodell im Vordergrund aus. Die junge Frau schaut aus puppengleichem Gesicht geistesverloren aus dem Bildraum. Ob ihr Blick uns Betrachtenden gilt, bleibt unklar. Ihren porzellanenen Körper wendet sie uns im Dreiviertelprofil zu. Diese Ausrichtung scheint paradox, kehrt sie sich schliesslich dadurch vom Porträtisten ab, der sich hinter ihrem Rücken auf dem beengten Platz zwischen Bett und Wand eingerichtet hat. Dieser nimmt seinerseits keine Notiz von dem Modell und blickt gleichsam in die Ferne. Wirken die Augen der Frau leer und abwesend, so scheinen die seinigen abtastend und unsicher. Rätselhaft bleibt auch die Rolle der dritten Figur, einer blonden Frau mit zarten Gesichtszügen: In ein kimonoartiges Gewand gehüllt, schaut diese über die Schulter des Malers auf die Leinwand. Ist sie seine Muse oder ein Modell, das ihr fertiges Abbild begutachtet? Durch den Vergleich mit weiteren Selbst- und Doppelbildnissen des Künstlers lassen sich der Maler und die blonde Frau als François Barraud (1899–1934) und dessen Gattin Marie identifizieren. Trotz der Nähe zwischen den drei Bildfiguren findet keine Interaktion statt. Eine Möglichkeit, diese Isolation zu deuten, liegt darin, die scheinbar geschlossene Szene als drei voneinander getrennte Bildsequenzen zu lesen. Die Spannung, welche durch die geradezu surreale Bildmontage entsteht, ist typisch für Barrauds Arbeiten.
Der in La Chaux-de Fonds geborene François Barraud interessiert sich anders als viele Zeitgenossen nicht für die üppig fragmentierten Frauendarstellungen eines Pablo Picasso. Sein fotografisch glatter Malstil hat nichts gemein mit dem antibürgerlichen, dekonstruierenden und subjektiven Charakter moderner Tendenzen wie dem Kubismus oder Expressionismus, sondern gemahnt viel mehr an die französische Klassik des 19. Jahrhunderts: Seine kühlen, doch gleichwohl von glühender Spannung unterlegten Porträts und Aktdarstellungen sind an den Figurenbildern von Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) geschult. Die glasklare Modellierung der Nackten in „La séance de peinture“ erinnert etwa an Ingres‘ berühmte „Badende von Valpiçon“ (1808). Kompositorisch lässt sich die Liegende mit ihrer selbstbewussten Pose und Blickführung zudem in der Tradition der „Olympia“ von Edouard Manet (1832–1883) sehen. Sorgte Manet 1863 mit seiner Interpretation der Olympia als „Prostituierte in bürgerlichem Milieu“ noch für einen Skandal, so benötigt Barrauds profane Aktdarstellung siebzig Jahre später keine religiöse oder mythologische Legitimation mehr.
Zwischen 1919 und 1933 wird der nüchterne Stil der französischen Klassik im deutschen Sprachraum wieder aufgegriffen: Vertreterinnen und Vertreter der sogenannten Neuen Sachlichkeit schildern das soziale Milieu der Zwischenkriegszeit gestochen scharf und ungeschönt. In der Schweiz, abseits des Kriegsgeschehens, fallen die Darstellungen weniger drastisch aus als im Nachbarsland Deutschland – man denke hier etwa an Otto Dix (1891–1969) und dessen von Huren, Bettlern und Wirtschaftsprofiteuren besiedelten Grossstadtszenen. Doch auch in den Schweizer Exempeln kommen soziale und wirtschaftliche Betroffenheit zum Ausdruck, verkörpert in leeren Bildräumen, stummen Familieninterieurs, maskenhaften Porträts und kargen Objektdarstellungen. Themen, die auch François Barraud und seine drei Künstlerbrüder Aurel, Aimé und Charles im Stil der Neuen Sachlichkeit aufgreifen.
François gilt als der virtuoseste und erfolgreichste der vier Barraud-Brüder und zählt neben Niklaus Stöcklin (1896–1982), Eduard Gubler (1891–1971) und anderen zu den wichtigen Schweizer Vertretern der Neuen Sachlichkeit. Als gelernter Gipser kommt er über Abendkurse an der Ecole d’art appliqué in La Chaux-de-Fonds zur Kunst. Ab 1924 studiert er am Louvre in Paris die altflämischen und französischen Meister und lässt sich 1931 in Genf nieder, wo er mit 34 Jahren an Tuberkulose stirbt. Mit „La séance de peinture“ beherbergt das Aargauer Kunsthaus seit 2016 ein wichtiges Werk aus der Sammlung Coninx. 2020 wird die Sammlung im Aargauer Kunsthaus mit einer Sonderausstellung gewürdigt.
Julia Schallberger, 2019