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Christoph Haerle, "O zittre nicht, mein lieber Sohn", 1989
Stahl, Stahlseil, 170 x 260 x 260 cm, Plastik/Skulptur
Aargauer Kunsthaus Aarau / Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Bern / Dauerleihgabe im Aargauer Kunsthaus Aarau

«Wie kann ich Körper formulieren, ohne dass ich Gewicht und Masse bilde?» Mit dieser Frage, die historisch im Konstruktivismus verankert ist, bringt Christoph Haerle (*1958) in einem Kurzporträt des Schweizer Fernsehens sein plastisches Anliegen der Jahre 1987 bis 1990 auf den Punkt. Als gelernter Steinbildhauer und frisch an der ETH diplomierter Architekt hat der Zürcher Künstler zu diesem Zeitpunkt bereits eine Gruppe von Werken geschaffen, bei denen Stahlblöcke das Zurückschnellen von Federstahl austarieren. Das Postulat der Avantgarde, die Gleichsetzung von Masse und Volumen sei abzulehnen, um eine stärkere Durchdringung der bildnerischen Form mit dem Umraum zu erwirken, ist damit schon im Frühwerk auf Überlegungen umgelenkt, die ihrem Wesen nach statisch sind. Statik im Sinne von Stabilität bildet für Haerle jedoch nur die Prämisse. Faktisch dienen ihm die Gesetze von Tragen und Lasten sowie Materialeigenschaften wie Zugkraft und Elastizität eher als gedanklicher Rahmen, wie er labile Gleichgewichtszustände herstellen kann. In der 1987 einsetzenden Reihe der „Überspannten Quadrate“ und der nachfolgenden Gruppe der „Wandstücke“ findet dies seine Zuspitzung.

Zu den überspannten Quadraten zählt auch das Aarauer Werk, das 1993 anlässlich der Ausstellung „Equilibre. Gleichgewicht, Äquivalenz und Harmonie in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ in die Sammlung gelangte. 1989 entstanden, ist es die kühnste Umsetzung der Reihe, da es ganz ohne Unterbau auskommt. Konsequent hat Haerle diesen von einer quadratischen Grundplatte („Überspanntes Quadrat I“) auf eine dreieckige Basis („Überspanntes Quadrat II“) und schliesslich auf eine diagonale Schiene reduziert („Überspanntes Quadrat III“ und „Grosses überspanntes Quadrat“). Das Quadrat, auf das der Werktitel verweist, hat dadurch als horizontal umrissene Raumzeichnung eine zusehends autonome Präsenz erlangt. Damit wurde zugleich auch das Kräftespiel immer reiner, um schliesslich in einem geschlossenen reziproken System aufzugehen, einem Mit- und Gegeneinander aufnehmender und ableitender Kräfte. Nötig waren dafür nur noch drei Elemente: zwei Stahllatten und ein gespleisstes, also zugfest zur Schlinge verarbeitetes Stahlseil. Erstere bilden, quer zueinander angeordnet, das Diagonalkreuz für das Aufspreizen des Seils. Letzteres läuft unter grosser Spannung durch Nuten am Ende der Latten und bewirkt, nur mit wenigen Bolzen gesichert, deren Aufwölben und somit die im Doppelsinn überspannte, mit minimalistischen Mitteln ein Maximum an Volumen generierende Form.

Dem mannshohen Objekt, das selbst auf leichte Berührung mit Vibrationen oder gar schaukelnder Bewegung reagiert, gab Haerle schliesslich den Titel „O, zittre nicht mein lieber Sohn“. Mozarts „Zauberflöte“ entliehen – die Zeile eröffnet den ersten Auftritt der Königin der Nacht – wirkt diese Wahl in Anbetracht der sonst eher sachlichen Titel überraschend dialogisch. Man mag darin eine geduldete Ablenkung vom Werkkonzept und dessen konstruktiv-konkreter Prägung sehen: eine Anregung zum Beispiel, Parallelen zu einem Saiteninstrument oder zum virtuosen Tonumfang der Koloraturarie zu ziehen. Ebenso lässt sich der Titel aber auch als beschwörende Formel verstehen: als Echo darauf, wie Haerle hier Schwere in Leichtigkeit umwandelt, indem er Konstruktion ad extremis betreibt.

Astrid Näff, 2022

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