Acryl auf Baumwolle, 220 x 600 cm
Ein einziger Farbton bestimmt das immense, 220 x 600 cm messende Bild: Preussisch Blau auch Pariser Blau genannt. Mehr gezeichnet als gemalt, mit feinen, aquarellhaften Nuancen und ohne nennenswerte Akzente erstreckt sich eine scheinbar verwirrliche Bildstruktur über die ganze Bildfläche. Erst dem zweiten Blick entdecken sich konkrete Bildelemente: Eine Strassenflucht mit hohen Häusern, die sich in der Bildmitte verliert, sowie verschiedene figurative und landschaftliche Motive und nicht zuletzt ein puzzleartiger Raster, der das Bildgeschehen parzelliert und gleichzeitig alles zusammenhält. „Split horizon“, der aufgesplitterte Horizont, nannte Rolf Winnewisser (*1949) seine Retrospektive 2008 im Aargauer Kunsthaus und benannte damit genau diese Ambivalenz zwischen dem grossen Ganzen und den vielen Einzelteilen, in die es immer wieder zerfällt.
Das „Berlin-Bild“ ist 2007 während eines Atelieraufenthaltes in Berlin entstanden. Die Leinwand diente dabei als eine Art Projektionsfläche, auf welcher der Künstler Elemente festhielt, die ihn in diesem Zeitraum beschäftigten und die er wie in einer Mehrfachbelichtung übereinanderschichtete. Statt eines Bildes hat man als Betrachter / Betrachterin immer gleich mehrere im Fokus und bewegt sich so zwischen den Bildern. „The way inside out“, der zweite Titel dieses Bildes, benennt dabei die verschiedenen Blickrichtungen, die hier zum Zuge kommen und weist auf das für Rolf Winnewisser grundlegende Verständnis des Bildes als Membran zwischen Innenwelt und Aussenwelt.
Die Ausstellung von Rolf Winnewisser im Aargauer Kunsthaus war eine grossartige Chance, die Werkgruppe dieses wichtigen Schweizer Künstlers in der Aargauischen Kunstsammlung nicht nur durch den Ankauf des „Berlin-Bildes“, sondern auch durch grosszügige Schenkungen auszubauen. Schon im Vorfeld der Ausstellung erhielt das Kunsthaus von Irene Grundel alle Werke Winnewissers, die Martin Disler gesammelt hatte (insgesamt 52 Werke!) und die sich im Nachlass Dislers befanden – ein grossartiges Zeugnis einer besonderen Künstlerfreundschaft. Rolf Winnewisser selbst schenkte Objekte und verschiedene Arbeiten, die in engem Zusammenhang mit der Ausstellung standen. Dazu gehören die beiden Drehscheibenbilder Zeitzonen von 1977, von denen eine Plakat, Einladung und Umschlag unserer Publikation zieren. Wie das „Berlin-Bild“ sind „Zeitzonen“ ein bildnerisches Tagebuch: Rolf Winnewisser hat hier einmal mit Bildzeichen einmal textlich Momente einer Reise quer durch Nord-Amerika festgehalten und so auf den beweglichen Kreisscheiben arrangiert, dass wir die Konstellation der Aufzeichnungen immer wieder verändern und damit gesehene, erlebte, erdachte Geschichten in Bewegung halten können.
Stephan Kunz