Öl auf Leinwand, 62 x 97 cm
Das Schaffen des in Trimbach und Basel aufgewachsenen Karl Otto Hügin (1887–1963) ist heute nur noch wenigen ein Begriff. Bekanntheit erlangt der Autodidakt zu Lebzeiten vor allem als Schöpfer von rund dreissig Fresken und Mosaiken an öffentlichen Gebäuden, die in den 1920er- bis 1940er-Jahren entstehen. Vergleichsweise spät rückt Hügins eigenwillige Tafelmalerei ins Bewusstsein, die der Künstler ab den 1910er-Jahren entwickelt. Aus diesem Œuvre verfügt das Aargauer Kunsthaus über eine grössere Werkgruppe unterschiedlicher Schaffensphasen. Das vorliegende Gemälde gelangt 1978 dank einer Schenkung der Freunde der Aargauischen Kunstsammlung gemeinsam mit zwei weiteren Werken in die Bestände des Museums.
Schon früh in Hügins künstlerischem Schaffen zeichnet sich ein Interesse am Menschen im modernen Alltag ab, das vor allem ab den 1930er-Jahren motivisch bestimmend wird. Besonders stark rückt dabei die (Gross-)Stadt als sozialer Handlungsraum in den Blickpunkt, öffentliche Orte des gesellschaftlichen Neben- und Miteinanders wie das Ufer des Zürichsees oder die Bahnhofshalle werden zu bevorzugten Sujets. Mit dem Gemälde „Im Kaffee“ nimmt Hügin bereits einige Bildideen dieser späteren reifen Schaffensphase vorweg. Obschon das Werk nicht datiert ist, lässt eine Reproduktion in der Zeitschrift „Das Werk“ im Jahr 1929 dessen Entstehung auf den Zeitraum davor eingrenzen. Im begleitenden Artikel konstatiert der Kunstkritiker Walter Hugelshofer für Hügins Gemälde grundsätzlich eine „seltene Dichte und innere Geschlossenheit“. Für die vorliegende Darstellung scheint dies in besonderem Mass zu gelten.
Unmittelbar fühlt man sich in die lebendige Kaffeehausszenerie hineinversetzt, meint, die dazugehörige Geräuschkulisse aus Gesprächsfetzen und klapperndem Geschirr wahrzunehmen. Dicht gedrängt sind opulente Frauenkörper zu kleinen Inseln gruppiert, flankiert von zwei Einzelfiguren im Vordergrund. Ungewohnt erscheint der direkte Blick auf die Rückenfigur im Zentrum des Bildes. Sie ist ein wiederkehrendes Motiv in Hügins Schaffen, hier kommt ihr allerdings eher kompositorische als inhaltliche Bedeutung zu: die gerundeten Rückenausschnitte der Damen korrespondieren formal mit den Hüten, welche wiederum auf einer einzigen Horizontalen ausgerichtet sind. Zur Gedrängtheit der Komposition tragen zusätzlich zwei schematisch angedeutete, Zeitung lesende Figuren im Hintergrund sowie die farbliche Dominanz der satten, schweren Rot- und Brauntöne bei. Mit dem grossen Querformat greift Hügin bereits einem Gestaltungsprinzip der rund zehn Jahre später entstehenden Werke vor, welche sich allmählich seinen friesartigen Wandgemälden annähern.
Dem rigiden Bildausschnitt geschuldet, ist die Darstellung gänzlich auf die Figuren konzentriert, die mit ihren ernsten Mienen und typisierten Gesichtszügen seltsam puppenhaft erscheinen. Hügin zeigt den modernen Stadtmenschen hier als anonyme und einsame Gestalt, deren persönliche Isolation im öffentlichen Raum umso stärker zutage tritt, wie anhand der melancholisch versunkenen Frauenfigur am linken Bildrand deutlich wird. Erst auf den zweiten Blick wird ersichtlich, dass der Künstler hier gleichzeitig auch ein augenzwinkerndes bis satirisches Bild der gut situierten Stadtgesellschaft zeichnet: in der Gegenüberstellung der üppigen Frauenkörper mit den filigranen Stuhllehnen etwa oder im ebenso kritischen wie neugierigen Blick der blau gekleideten Dame auf die Figur dunkler Hautfarbe am rechten Bildrand, die rauchend in ihre französische Zeitung vertieft jene Weltgewandtheit verkörpert, nach der das lokale Publikum insgeheim strebt. Im Zusammenstoss dieser beiden Lebenswelten, en passant ins Bild gesetzt, manifestiert sich der für Hügin so typische Reiz der eigentümlichen Momente des Alltags, die sich oft flüchtig und nur den Augen des Künstlers zeigen.
Raphaela Reinmann