
Holz, Spiegel und Acrylglas, 192.5 x 39.5 x 35.5 cm
«Gewiss inspiriert von Marcel Duchamps ‹La Boîte-en-Valise› von 1941 hatte ich 1970 die Idee, ein Schubladenmuseum mit zeitgenössischer Kunst, also mit der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre zu machen: mit 500 Werken gleichsam ein Kunstwerkemosaik von 500 Künstlerinnen und Künstlern als ein Zeitgeist-Bild. Ein Museum in seiner medialen Funktion […].»
So blickt Herbert Distel (*1942) auf der Website schubladenmuseum.org auf eine seiner bekanntesten Arbeiten zurück: sein «Museum of Drawers». Das Objekt hat seinen Ursprung in der Faszination des Künstlers für einen alten Schrank aus einem Kurzwarengeschäft, der einst der wohlgeordneten Aufbewahrung von Nähfadenspulen diente. Nach längerem Überlegen wird aus dem hohen, schmalen Möbel die Gebäudehülle. Seine 20 frontseitig verglasten Ausziehkästen mit jeweils 25 kleinen Fächern bilden die streng paritätische Innenarchitektur. Sieben Jahre dauert es, die «Säle» zu füllen. Mit der Bitte, ihm unentgeltlich ein kleines, den knappen Dimensionen angepasstes Unikat zu überlassen, steht Distel hierfür im Austausch mit den namhaftesten Künstlern und Künstlerinnen der Zeit. Dass er mit dem Konzept einen Nerv getroffen hat, zeigt sich bereits im Verlauf der Entstehung. Zusammen mit Duchamps Koffer, der die wichtigsten Arbeiten des Künstlers als Miniaturen versammelt, ist der Bilderturm erstmals 1972 an der von Harald Szeemann verantworteten Documenta 5 zu sehen. Daneben sind ähnliche Initiativen wie Claes Oldenburgs begehbares «Mouse Museum», «L’Armoire» des Fluxus-Vertreters Ben oder auch Marcel Broodthaers’ finale Sektion des «Musée d’art moderne: Département des Aigles» zu entdecken. 1979, nach mehreren weiteren vielbeachteten Präsentationen weltweit, findet Distels Kompaktmuseum schliesslich wie geplant als Schenkung des Künstlers Eingang in die Sammlung eines konventionellen Museums und befindet sich seither im Kunsthaus Zürich.
2003, fast 25 Jahre nach dieser Schenkung, zeigt Distel im Rahmen seiner gleichnamigen Einzelschau im Haus der Kunst St. Josef in Solothurn die Arbeit «Imagerie». Das zunächst recht unscheinbare Konvolut, mit dem der Künstler den umgenutzten Raum der ehemaligen Klosterkirche bespielt, referiert ganz offen auf das ältere Werk und umfasst als sichtbarsten Teil einen analogen Schubladenturm. Dessen Inhalt besteht indes nicht mehr aus eigens geschaffenen, die künstlerische Haltung der jeweiligen Urheber spiegelnden Miniaturoriginalen. Stattdessen hat Distel 320 Acrylglasplatten schneiden und darauf in einer zurückhaltenden Typografie die Namen von ebenso vielen Kunstschaffenden eingravieren lassen. Den Schubladen entnommen und als Band vor weissen Wänden auf Augenhöhe gehängt, laden die Tafeln zum Abschreiten ein und umreissen dabei zwischen P wie Picasso und M wie Marden je nach Vorkenntnis ein weites Panorama zeitgenössischer Kunst. Das vom Museumsbesuch gewohnte Betrachten einzelner Werke tritt dabei einerseits hinter die evokative Kraft der Namen zurück. Andererseits macht es kunsthistorischen Zusammenhängen Platz, die in der Reihenfolge der Hängung leise angedeutet sind. Die Arbeit eröffnet damit diverse Metaebenen, wodurch sie die angesprochene Rolle eines «Museums in seiner medialen Funktion» differenziert erfüllt. Nicht nur ruft sie mit jeder Platte das gesamte Schaffen der jeweils Genannten auf und steigert so – als «Imagerie» im Wortsinn: als Stätte bildgebender Praxis – die Zahl der vergegenwärtigten Werke enorm. Auch vom älteren Konzept des «MOD» aufgeworfene Fragen wie jene der Repräsentanz – womit bin ich in einer Sammlung vertreten? – oder die an das Dreieck Werk–Raum–Setzung gebundene spezifische Wahrnehmung verschieben sich damit auf andere Dinge. Zu denken wäre etwa an das plötzlich erfüllbar scheinende Ideal einer «vollständigen Sammlung», die in der Auswahl der Namen letztlich doch subjektiv bleibt, oder auch an die von der Konzeptkunst vielfach gestellte Frage der Materialisierung, die hier dank dem transparenten Acrylglas zur Grundlage des zu leistenden individuellen Beitrags wird: dem Akt der Imagination.
André Malraux’ Idee eines orts- und objektunabhängigen «Musée imaginaire» variierend, handelt «Imagerie» somit faktisch von der Erinnerung. Distel selbst spricht in diesem Zusammenhang vom Museum als einem Ort der Bewusstwerdung von Zeit. Nicht umsonst gleichen die Namenstafeln daher auch jenen an Orten des Gedenkens. Sie verweisen, so Distel, auf das Museum als jenen Ort, an welchem die aufgeführten Künstler und Künstlerinnen unsterblich sind.
Astrid Näff, 2025