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Hans Josephsohn, Stehender, ohne Titel (Grosser Arbeiter), 1954-1965
Bronze, 212 x 72 x 48.5 cm, Plastik/Skulptur

Vor einer Figur von Hans Josephsohn (1920–2012) von Realismus zu sprechen, scheint kühn. Schrundig, kantig, verallgemeinernd bauen sie sich vor einem auf und geben trotz ihrer massiven Präsenz vom Individuum anfangs kaum etwas preis. Stattdessen künden sie vom bildnerischen Vorgang: vom Finden und Austarieren unaufgeregter Posen; vom addierenden Aufbau des fragilen Gipsoriginals mit Spachtel, Messer und teils auch von Hand; vom Glätten kleiner und kleinster Oberflächensegmente; von deren neuerlichem Brechen zwecks Lenkung des Lichts; vom Ringen um die finale Form. Der Materie verpflichtet und vom Wesen her prozesshaft, hat dieser plastische Realismus kein getreues Abbild zum Ziel. Dennoch ist er phänomenologisch an die Realität gekoppelt, an ein Sehen höchster Subtilität. Diesem Miteinander von Auge und Hand verdankt sich «die existenzielle Richtigkeit dieser Plastik», wie Paul Nizon 1966 in einer Rezension mit dem Titel «Ein Realist heute» konstatiert. «Genauer», so Nizon: «Sie beruht darauf, dass der Künstler sein Bild-Ertasten (einen Erkenntnisprozess also) in der plastischen Materie namhaft zu machen versteht.»

Leicht übersieht man ob der essenziellen Kraft von Josephsohns Schaffen, dass ihm praktisch immer die konkrete Begegnung zugrunde liegt. Diese dritte Form von Realismus kennzeichnet auch die Gruppe männlicher Figuren – vorwiegend Stehende – die Josephsohn ab 1954 in seinem damaligen, eben erst von seinem Lehrer Otto Müller übernommenen Atelier an der Zürichbergstrasse 10 fabriziert. Täglich sieht der Künstler dort einen Mann Anfang Fünfzig vorbeigehen, der für eines der nahen Spitäler Wäsche austrägt. Die stattliche Postur dieses Mannes namens Ernst Baumann und dessen Kleidung wecken sein Interesse und münden in eine lose Zusammenarbeit für knapp ein Jahrzehnt. Zur Mehrzahl umfasst das Dutzend Figuren, das verteilt über diesen Zeitraum entsteht, Versionen mittleren Formats, für die Baumann sporadisch in seiner Mittagspause posiert. Ausgehend von diesen Gipsen gestaltet Josephsohn drei überlebensgrosse Versionen, die um 1958–60, wie Atelierfotos dokumentieren, bereits weit ausgearbeitet sind. Ein ebenfalls bildlich belegter, später zerstörter «Grosser Stehender», der 1955 in der Ausstellung «Junge Künstler» im Zürcher Helmhaus figuriert, ist mit diesen nicht identisch. Ein durch Presseartikel bezeugter «unterlebensgrosser Stehender» in Josephsohns Einzelschau in der Städtischen Kunstkammer zum Strauhof 1956 mag aber der Reihe angehört haben: Max Adolf Vogt bespricht ihn in der NZZ jedenfalls als «eine Art von unpathetischem, gerade darum so richtigen Arbeiterdenkmal».

Blickt man nur auf die grossen Versionen, die eindeutig Baumann zeigen, scheint es bis 1964 zu dauern, bis Josephsohn eine von ihnen – «Arbeiter, Gips in Metall, Preis nach Vereinbarung» – in seine repräsentative Übersichtsschau im Helmhaus integriert. Von allen Fassungen existieren heute spätere Güsse aus Messing in Auflagen von maximal 6 + 2 Exemplaren. Die Aarauer Figur ist hingegen aus Bronze und die einzige, die Josephsohn einigermassen zeitnah zum Giessen freigibt. Den Anlass dafür bildet ein auf Vorschlag von Kunsthausdirektor Heiny Widmer am 4. Dezember 1974 erfolgter Besuch eines Teils des Vorstands beim Künstler. In der Sitzung vom 9. Januar 1975 trifft die Kommission dann den Ankaufsentscheid. Von Franco Amici in Mendrisio im Wachsauschmelzverfahren gegossen, hat die Figur exakt drei Monate später im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen bereits ihren ersten Auftritt. Im Katalog wird sie dort auf 1963–66 datiert.

Geben die Varianten Baumann in einer kaum merklich angedeuteten Schrittbewegung respektive mit vor dem Bauch verschränkten Händen wieder, nimmt er in der Aarauer Fassung breitbeinig eine komplett entspannte Haltung ein. Im Profil fällt dabei der sichtlich gekrümmte Körperbau auf, dem Josephsohn allerdings, wie er 1981 gegenüber Hans Heinz Holz und 2005 gegenüber Gerhard Mack unterstreicht, keine weitere Bedeutung beigemessen sehen will. Sein alleiniges Interesse habe, so der Künstler, der Frage gegolten, wie sich der menschliche Körper, ohne in Naturalismus zu verfallen oder zu allgemein zu werden, in seinen individuellen Eigenheiten wiedergeben lässt. Die schon angesprochene Kleidung, insbesondere die Tragweise der weit nach oben gezogenen, die Beine formlos umspielenden Hose habe dabei in Baumanns Fall den primären Anreiz geliefert. Ebenso dient die Kleidung als Rückfallargument gegen die Einschreibung in die Ideengeschichte des Arbeiterdenkmals, wie es im Zürcher Kontext namentlich Werke von Otto Müller und Karl Geiser verkörpern: «Die Bezeichnung ‹Arbeiter› ist ein Hilfsmittel, weil es mir zu umständlich war zu sagen ‹Mann mit ausgebeulten Hosen›».

Astrid Näff, 2023

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