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Ben Vautier, Je pense donc je suisse, 1992
Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: 2011 ProLitteris, Zürich

Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich. René Descartes‘ berühmter Satz, mit dem er seine Zweifel an der eigenen Erkenntnisfähigkeit logisch unanfechtbar ausräumte, bildet den Bezugspunkt des Schriftbilds „Je pense donc je suisse“. Mit einer kleinen, doch bedeutsamen Verschiebung machte sein Autor, der schweizerisch-französische Künstler Ben Vautier (*1935), genannt Ben, aus dem Kernzitat europäischer Geistesgeschichte eine unverwechselbare Aussage zur Schweiz. Wie minimalistisch sein Akt der Aneignung ausfiel, zeigt sich, wenn man zu Descartes‘ lateinischem Fazit in den „Principia philosophiae“ (1644) den schon im „Discours de la méthode“ (1637) niedergeschriebenen französischen Wortlaut hinzunimmt: Je pense, donc je suis. Die Raffinesse von Bens Schriftbild liegt also erstens im sprachspielerischen Ansatz. Zweitens resultiert sie aus dessen Anwendung auf den vielsprachigen Kontext der Schweiz, wobei das Werk, indem es die Fortsetzung von Descartes‘ Traktattitel mitdenken lässt („Discours de la méthode pour bien conduire sa raison…“), direkt an das darin zum Ausdruck gebrachte Vertrauen in Sprache und Diskurs als Weg zur Vernunft anschliesst. Drittens verbirgt sie sich in der Werkentstehung aus einem ähnlichen Klima des Zweifels heraus. Dies gilt für Ben persönlich, der sich verschiedentlich mit dem Zweifel befasste. Es gilt aber auch für die damalige Stimmungslage der Schweiz, die später einmal von berufener Seite, nämlich durch Kaspar Villiger, Bundesrat von 1989 bis 2003, als uneingestandene Identitätskrise bezeichnet werden sollte.

Wie sich Verunsicherung positiv nutzen lässt, zeigt sich bei kaum einem Künstler so konsequent und strategisch wie bei Ben. Schon in jungen Jahren, als er umständehalber und ohne ausreichende Sprachkenntnisse mit seiner Mutter nach Nizza zog, begann er sich in die Lektüre philosophischer und weiterer anspruchsvoller Texte zu flüchten. Mit der Zeit entwickelte er daraus eine schöpferische Haltung, die einen lebensnahen Kunstbegriff ins Zentrum stellte und zu seiner engen Verbindung mit den Nouveaux Réalistes und der internationalen Fluxus-Szene führte. Zu seiner Werkpraxis, die nach dem Grundsatz „Tout est art“ immer allumfassender wurde, zählte fortan, Duchamp übertreffend, das Signieren jeder erdenklichen noch unsignierten Sache oder auch das Deklarieren selbst simpelster Gesten zu Kunst. Als Reaktion auf diese zur Sackgasse gewordenen Arbeiten zum Ruhm brachte Ben dann um 1965 den Zweifel ins Spiel. Seinen Schallplattenladen in Nizza, der längst ein Gesamtkunstwerk und lebendiger Treffpunkt geworden war, benannte er um in Galerie „Ben doute de tout“. Später entstanden etliche Schriftbilder zum Thema: Einzelwerke wie „Je doute“ oder auch ganze Zyklen wie die „Excercices sur l’Ego“ und die „Autocritique“.

In „Je pense donc je suisse“ trifft Bens Überhöhungskonzept der künstlerisch selbstgenügsamen, prima vista oftmals unspektakulären Geste mit der skeptisch-zweifelnden Haltung zusammen. Man kann von einer eigentlichen Denkhandlung sprechen, die – so suggeriert es das Wortspiel – einem Nachdenken über die Schweiz und das Schweizer-Sein gleichkommt. Positiv gewertet darf man damit wohl die typisch helvetischen Tugenden des Reflektierens, des Abwägens und der Konsensfindung assoziieren. Kritischer genommen zwingt das Werk zur Selbsthinterfragung, zur Relativierung oder gar Aufgabe vermeintlich historischer Wahrheiten und zur steten Neuüberprüfung der eigenen Position. „Je pense donc je suisse“ funktioniert damit als zeitgemässes Rezept der Selbstvergewisserung und Existenzbestätigung. Etwas Stolz, vermischt mit Erleichterung, klingt daher auch im Umkehrschluss an, der im Verb gewordenen Landesnamen aufscheint: Nicht nur Denkhorizonte, auch Handlungsoptionen eröffnet uns Bens Neologismus.

Geschaffen hat Vautier das Schriftbild „Je pense donc je suisse“ 1992 für den vorwiegend auf künstlerische Beiträge setzenden Auftritt der Schweiz an der Weltausstellung in Sevilla. Eine rückseitige Dankesnote an Adolf Burkhardt, der den Kulturpavillon gemeinsam mit Harald Szeemann verantwortete und gegen alle Geringschätzung verteidigte, erinnert an den Wirbel, den es dabei – ausgelöst durch sein Pendant „Suiza no existe“ – in konservativen Polit- und Wirtschaftskreisen verursachte. Vorangegangen ist ihm ein Hochformat von 1991, das denselben Satz in umgekehrter Farbstellung, also in Weiss auf Schwarz, artikulierte. Auch diese Fassung entstand für ein programmatisches Projekt von Szeemann, nämlich die in Zürich, Madrid und Düsseldorf gezeigte Ausstellung „Visionäre Schweiz“. Die Version für Sevilla und ihr Pendant „Suiza no existe“ konnten ein Jahr nach Burkhardts überraschendem Tod aus der Juni-Auktion 2003 der Galerie Kornfeld in Bern erworben werden. Es war zugleich das Jahr der Wiedereröffnung des erweiterten Kunsthauses, und so fand mit dem Bildpaar nicht nur ein Stückchen Landesgeschichte Eingang in die Sammlung. „Je pense donc je suisse“ lässt sich seither auch als erneuertes Ja zur vertieften kritischen Auseinandersetzung mit wichtiger Schweizer Kunst verstehen.

Astrid Näff

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