Öl auf Leinwand, 100 x 100.7 x 4.3 cm
Die französische Malerin Aurélie Nemours (1910–2005) zählt zu einer Generation von Kunstschaffenden, die in der Nachkriegszeit im politisch offenen Klima von Paris die „konkrete Kunst“ für sich entdecken. Zu dieser streng gegenstandslosen Stilrichtung findet Nemours durch die Beobachtung der Natur: „Den Rhythmus habe ich dadurch erkannt, dass ich den menschlichen Körper beobachtet habe. Ich gehe von der Natur aus, um bei der Gitterstruktur anzukommen. Es ist beim Aktzeichnen am lebenden Modell in den Pariser Ateliers, wo sie u.a. bei André Lohte (1885–1962) und zuletzt bei Fernand Léger (1881–1955) während rund zehn Jahren Grundlegendes für ihren Weg der Abstraktion erlernt: Das Wechselspiel der einzelnen Elemente, Proportionen, Masse und Gleichgewicht sowie die Strukturierung der Fläche und des Raums. Mit 39 Jahren beschliesst sie – auf der Suche nach dem Wesentlichen, nach der Form, die zeitlos ist – sich fortan der geometrischen Abstraktion zu verschreiben. Figuratives verbannt sie von der Bildfläche, nur noch die ‚reine‘ Form will sie beibehalten. Mit Gleichgesinnten stellt sie u.a. im 1946 gegründeten „Salon des Réalités Nouvelles“ aus, einer Plattform für ungegenständliche Malerei und Plastik. Ihr erstes ausschliesslich auf horizontalen und vertikalen Strukturen basierende Werk schafft sie 1953. Im gleichen Jahr entdeckt sie die Kunst von Piet Mondrian (1872–1944), was sie in ihrem künstlerischen Weg bestätigt.
Die vorliegende Arbeit „N + H 910“ (1991) gelangt als Schenkung der Künstlerin in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses. Das Werk ist bezeichnend für Nemours geometrisch abstraktes Œuvre, in dem sie mit bewusst begrenztem Form- und Farbvokabular nach elementaren Flächenrhythmen und Raumstrukturen sucht. Das Wechselspiel von weissen und schwarzen Elementen im rechten Winkel ist dabei ein wiederkehrendes Thema und auch bildbestimmend in „N + H 910“. Auf einer quadratischen Leinwand – einer von Nemours bevorzugten Form – bildet der Schwarz-Weiss Kontrast ein Zusammenspiel von Masse und Leere und evoziert ein rhythmisches Spannungsfeld, in dem das Nichts und der Raum, das Sein und Nicht-Sein sich gegenseitig bedingen. Jedes Element trägt die gleiche strukturelle Bedeutung, jede Form dient und wird gleichzeitig bedient. Man ist an Josef Albers (1888–1976) erinnert, der mit seinen rigorosen Farb- und Formexperimenten in den 1960er-Jahren die moderne Ästhetik pioniert, in der es keinen Unterschied mehr gibt zwischen aktiven und passiven Elementen, zwischen positiv und negativ. Das Negative wird als Aktives erlebbar und das Passive tritt als Positives in Erscheinung.
Nemours Arbeiten wirken oft kühl und streng, sind aber nicht das Resultat mathematischen Kalküls, sondern der Sensibilität und Intuition der Künstlerin. „Für mich kommen die Dinge eher intuitiv als willentlich zustande.“, meint sie und unterscheidet sich damit wesentlich von anderen Vertretern der „Konkreten Kunst“, deren geometrische Abstraktionen vorwiegend auf berechenbaren Systemen basieren.
Nemours ist eine Künstlerin, die bis zu ihrem Tod die Abstraktion beharrlich verfolgt und in der Einsamkeit die Stille und Leere findet, aus der heraus sie schöpferisch tätig sein kann. 2004 widmet ihr das Centre Georges-Pompidou eine grosse Retrospektive und ehrt damit das Werk einer Künstlerin, die auf der Suche nach dem Absoluten zur totalen Vereinfachung der malerischen Elemente gelangt und Werke von eindringlicher Stringenz und Kraft schuf.
Nicole Rampa