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Olivia Etter, Himmelsdöschen, 1994
Bronze, 20 x 15.5 x 7.5 cm, Plastik/Skulptur
Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum der Sammlung Andreas Züst

Zwei Fantasiewesen mit sternartigem Kopfschmuck und engelsgleichen Flügeln stehen grazil auf ihren gezwirbelten Beinen. Das grössere Exemplar überragt ein fast identisches kleineres und scheint über dieses zu wachen, wie eine Mutter über ihr Kind. „Himmelsdöschen“ nennt Olivia Etter (*1956, Zürich) die beiden in Bronze gegossenen Objekte. Ein horizontaler Spalt durchzieht ihre kugelförmigen Körper dort, wo sich die anthropomorphen Gefässe mit ihren „fliegenden“ Deckeln zu einem Döschen fügen. Ob sie sich tatsächlich öffnen lassen? Und was sich wohl darin befindet?

Seit ihren künstlerischen Anfängen mit begehbaren Raumbildern umfasst Olivia Etters vielschichtiges Werk verschiedene Medien und Techniken: Zeichnungen, Fotografien, Performances, Plastiken und teils gar als Möbel nutzbare Objekte. Aber auch getrocknete Blätter, Blüten, oder Halme regen die Fantasie der Künstlerin an und dienen ihr später als Material für höchst fragile, insektenartige Tierchen. Die sogenannten „Etterlinge“ – die mit anderen kleinplastischen Werken den Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden.

Schon früh zeigt sich Etters Vorliebe für Materialien und Handwerk. Mit 20 Jahren schliesst sie ihre Ausbildung als Dekorateurin ab. Neben Auftragsarbeiten drückt sie sich künstlerisch vorerst im Privaten aus. Sie lädt Gäste ein und gestaltet ihre Wohnungen zu ausgefallenen Environments um – mit Pflanzen, bizarren Lichtinstallationen und allerlei Essbarem. Einige Jahre später wird sie von der Zürcher Kuratorin Bice Curiger „gefunden“ oder „entdeckt“, wie die Künstlerin selbst in einem Interview bezeugt. Für die heute als legendär geltende Gruppenausstellung „Saus und Braus“ (1980) kleidet sie einen Raum mit bemalten Tüchern aus. Es ist ihre erste Ausstellung überhaupt. Besucherinnen und Besucher können sich einen Teil des Kunstwerks kaufen, sich ein Stück Stoff herausschneiden. Zeit ihres Lebens bleibt für Etter der Unterschied zwischen „Dekoration“ und „richtiger“ Kunst, zwischen freier und angewandter Kunst irrelevant. Für eine Ausstellung mit dem Titel „Bilder“ schlägt sie eine Bar vor, sie arbeitet für kabarettistische Selbstinszenierungen wiederholt mit einer Schuhdesignerin zusammen, oder sie initiiert die „real-utopische Frühstückstafel“, zu der Freunde und Bekannte Entwürfe für das Tafelservice liefern.

Mit den beiden „Himmelsdöschen“ balanciert die Künstlerin elegant zwischen Kunstwerk und kostbarem Alltagsgegenstand hin und her. Auch die Innenräume der Objekte bleiben rätselhaft und beflügeln zugleich die Einbildungskraft der Betrachterinnen und Betrachter.

2004 gelangen die „Himmelsdöschen“ durch ein Depositum der Sammlung Andreas Züst ins Aargauer Kunsthaus. 2016 sind sie in der Sammlungspräsentation „Auf der Grenze“ zu sehen, die Werke unter der Thematik der „Innerlichkeit“ versammelt. 2022 erhält das Objektpaar in der Ausstellung „Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau…“ zusammen mit weiteren Arbeiten der Künstlerin einen längst fälligen, prominenten Auftritt. Im Dialog mit Vorläuferinnen wie Meret Oppenheim oder Louise Bourgeois werden ähnliche surrealistische Tendenzen wie Mehrdeutigkeit oder Ironie in Etters Werk deutlich. Auf die Frage nach Einflüssen antwortete die Künstlerin einst, dass für sie die innere Welt immer viel realer war. Die beiden sorgfältig ausgearbeiteten „Himmelsdöschen“ stehen exemplarisch für Etters künstlerische Haltung, in der sie Sichtbares und Unsichtbares, Bewusstes und Unbewusstes, Innen- und Aussenwelt verbindet. Und so könnten die auf dem Sockel gelandeten Wesen mithilfe ihrer an Sprungfedern erinnernden Beinen jeden Augenblick wieder Fahrt in Richtung Himmel nehmen.

Sarah Mühlebach, 2022

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