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Giovanni Giacometti, Nuova Neve (Neuschnee), 1902
Öl auf Leinwand, 55 x 81 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: gemeinfrei
Fotocredit: Jörg Müller

Zusammen mit Ferdinand Hodler (1853-1918), Cuno Amiet (1868–1961) und Félix Vallotton (1865–1925) leistet Giovanni Giacometti (1868–1933) den Hauptbeitrag der Schweiz zu den Avantgardeströmungen des frühen 20. Jahrhunderts. Giacometti gilt innerhalb der Entwicklung der modernen Malerei als unabhängige Persönlichkeit von internationalem Rang. Er nimmt künstlerische Tendenzen auf, interpretiert sie neu und bringt das eigene Empfinden mit ins Spiel. Giacometti erschafft archetypische Bilder und Situationen von unverwechselbarem Charakter, die er in der Ursprünglichkeit seiner Bündner Heimat vorfindet. Er hält sich an die Schilderung von Landschaften des Bergells und des Oberengadins und verleiht seinen Bildinhalten eine hohe Individualität sowie Originalität.

Immer wieder ist der Künstler aufs Neue vom Zauber des Winters fasziniert und hält das Geschaute in vielen Winterlandschaften auf der Leinwand fest. In „Nuova Neve (Neuschnee)“ eröffnet sich dem Betrachter eine tief verschneite Dorflandschaft. Der Blick wandert über eine Schneedecke im Bildvordergrund zu einer Häuserzeile, deren mit Schnee bedeckten Dächer beinahe unbemerkt in die winterliche Berglandschaft im Hintergrund übergehen. Es handelt sich dabei um Borgonovo, den Geburtsort seiner Ehefrau Annetta, wo das Paar von 1900 bis 1905 lebt. Giacometti erzeugt mit den locker über die ganze Leinwand gesetzten Farbflecken ein Bild des winterlichen Dorfes im Bergell, in dem Licht und Farbe die wesentlichen Stimmungsträger ausmachen.

Dank einer Begegnung mit Giovanni Segantini (1858–1899) kann Giacometti eine persönliche und künstlerische Krise Anfang der 1890er-Jahre überwinden. Giacometti sucht den zehn Jahre älteren Künstlergenossen 1894 in Savognin auf, wo dieser sich soeben niedergelassen hat. Segantinis divisionistische Malweise – die Strichtechnik, bei der einzelne Farben unvermischt nebeneinander gesetzt werden – eignet sich Giacometti an und malt Bilder mit denselben feinen Pinselstrichen. Der plötzliche Tod seines Malerfreundes trifft Giacometti hart, befreit ihn aber vom dominanten Vorbild und öffnet ihm dadurch den künstlerischen Weg zu einer freieren Gestaltungsweise. Das Schaffen Giacomettis im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist von der Suche nach seinem eigenständigen künstlerischen Ausdruck gezeichnet, und er setzt sich u.a. mit dem Jugendstil sowie der expressiven Malweise Vincent van Goghs (1853–1890) auseinander. Es bleibt ungewiss, ob Giacometti 1900 an der Pariser Weltausstellung Werke der französischen Pointillisten im Original sieht, oder den neuen Stil nur von Reproduktionen kennt. Der Pointillismus bleibt in seinem Gesamtwerk eine kurze Phase, und „Nuova neve“ von 1902 bildet das erste Gemälde einer kleinen Gruppe von pointillistisch gemalten Bildern, die mit „Nebel in Maloja“ (1910) abgeschlossen wird. Die feine Strichtechnik Segantinis gibt Giacometti zugunsten einer freieren, lockeren Tupfenmalerei auf. Die Farbgesetze Georges-Pierre Seurats (1859–1891) und Paul Signacs (1863–1935) interessieren ihn weniger, viel mehr findet er in der pointillistischen Methode ein neues technisches und kompositorisches Mittel, um die Farbwirkung sowie die Lichtverhältnisse intensiver zu gestalten – ein Bestreben, das seine künstlerische Entwicklung vorantreibt und somit sein ganzes Œuvre kennzeichnet.

Das Werk kann dank einem Bundesbeitrag 1904 vom Aargauischen Kunstverein für die Sammlung des Aargauer Kunsthauses angekauft werden.

Karoliina Elmer

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