Tusche und Gouache auf Papier, 39.8 x 29.8 cm
Max von Moos (1903–1979) zählt zu den wichtigsten Schweizer Künstlern des 20. Jahrhunderts und ist vor allem für seine surrealistische Malerei bekannt. Dass von Moos aber auch ein begnadeter und unermüdlicher Zeichner war, belegt sein über 25’000 Blätter umfassendes grafisches Œuvre.
Geboren als Sohn eines Künstlers und Lehrers kommt von Moos bereits früh in Kontakt mit der Kunst. Er besucht die Luzerner Kunsthochschule, an der sein Vater unterrichtet und wo auch er einige Jahre später seine Tätigkeit als Zeichnungslehrer aufnehmen wird. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Dasein begleitet ihn das Zeichnen somit sein Leben lang. Als der Künstler 1973 aus gesundheitlichen Gründen die Malerei aufgeben muss, entstehen als letzte Werke Filzstiftzeichnungen, welche einer Zusammenfassung gleich die Motive seines gesamten Schaffens wiedergeben.
Das Werk “Ohne Titel“ kam infolge der hauseigenen Ausstellung “Max von Moos. Der Zeichner“ (2016) in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses. Es entstand zu einer Zeit, in der von Moos bereits viel erreicht hatte: 1961 erhält er eine Retrospektive im Kunstmuseum Luzern, zwei Jahre darauf wird er zum Professor ernannt, und 1966 nimmt er den Kunstpreis der Stadt Luzern entgegen. Sich deswegen auf seinen Lorbeeren auszuruhen, liegt dem Künstler jedoch fern. Stets bleibt er auf der Suche nach neuen Motiven und Darstellungsformen. Das Blatt “Ohne Titel“ gehört zu von Moos‘ Bildgattung der “isolierten Köpfe“, die erst bei Arbeiten der 1950er-Jahre häufiger anzutreffen ist, dann aber einen wichtigen Stellenwert im Gesamtwerk einnimmt. Die Motive des Selbstporträts oder der Maske, die in “Ohne Titel“ zweifelsfrei auch erkannt werden können, ziehen sich jedoch konstant durch von Moos‘ Œuvre. Ob isolierter Kopf, Selbstporträt oder Maske – es sind mehrere Gesichter, die uns hier entgegenblicken. Zwei Augenpaare schauen uns an; wir können sie als einzelne oder als vieräugiges Ganzes betrachten. Die Vorstellung einer Doppelgesichtigkeit, auf den Künstler selbst oder den Menschen an sich bezogen, drängt sich auf: die Kombination zweier Ambivalenzen, die sich schliesslich in einem gemeinsamen Dritten vereinen. Oder handelt es sich doch um nur ein Gesicht, das jedoch vier Augen bedarf, um besser sehen zu können? Schon früh finden sich Augen in von Moos‘ Bildsprache; oft sind die Sehorgane bedroht oder werden vom Künstler selbst als “tote Augen“ bezeichnet. Das Sehen ist für einen bildenden Künstler der wichtigste Sinn; von Moos, der bereits 1942 an grünem, Mitte der 1950er-Jahre an grauem Star erkrankte, war sich dessen sehr bewusst. Der Sehsinn ermöglicht es dem Menschen, die Welt wahrzunehmen – er kann aber auch täuschen, etwas vorgaukeln, Dinge zeigen, die wir lieber nicht sehen, vor denen wir die Augen verschliessen möchten. Der wie aus Bruchstücken zusammengesetzte Kopf wirft so einige Fragen zum Menschenbild auf und ermahnt gleichzeitig an die Unzuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmung.
Bettina Mühlebach