Öl auf Leinwand, 87 x 121 cm
Walter Clénin (1897–1988) absolviert seine künstlerische Ausbildung 1913 bis 1915 an der Berner Gewerbeschule und an der École des Beaux-Arts in Genf. Nach dem Krieg unternimmt er mehrere Italienreisen; diese nehmen erheblichen Einfluss auf die kurz darauf einsetzende Gestaltung von Wandbildern an öffentlichen Gebäuden, die als Auftragsarbeiten entstehen. Die Wandmalerei erlebt in den 1930er- und 1940er-Jahren einen bedeutenden Aufschwung in der Schweiz, an dem Clénin massgeblich teilhat. Gleichzeitig gehört er in den 1920er- bis 1940er-Jahren zur führenden bernischen Kunstszene. Von den avantgardistischen Strömungen der Zeit wie der konstruktiv-konkreten Kunst weitgehend unberührt, vertritt er eine traditionalistische Richtung der Malerei, die sich motivisch an der bäuerlichen Welt sowie an Bibelerzählungen orientiert. Obwohl Clénin zu Lebzeiten durch seine Wandgemälde beachtliche Bekanntheit erlangt, an zahlreichen wichtigen Gruppenausstellungen im In- und Ausland teilnimmt und 1956 als Professor an die Rijksakademie in Amsterdam berufen wird, ist sein Schaffen heute kaum mehr bekannt. Die bislang einzige monografische Ausstellung fand 1983 in Biel statt.
Abgesehen vom Hauptwerk der Wandbilder entsteht ein Œuvre aus Zeichnungen sowie rund hundert Gemälden, die sich mehrheitlich in Privatbesitz befinden und daher weitgehend unbekannt sind. Neben Landschaften sowie einigen Stillleben beinhaltet das malerische Werk eine grössere Anzahl Porträts. In der Sammlung des Aargauer Kunsthauses befinden sich zwei thematisch verwandte Bildnisse: 1935 malt Clénin das Porträt der Textilkünstlerin Elsi Giauque (1900–1989). Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Maler Fernand Giauque (1895–1973), begründet sie Ende der 1920er-Jahre die „Festi“, eine Künstlerkolonie in Ligerz oberhalb des Bielersees, in der Clénin ab 1934 wohnhaft ist. In diesem Kreis verkehrt auch der Maler Traugott Senn (1877–1955) aus Ins, dem Clénin gut zehn Jahre später ein Porträt widmet. Während das halbfigurige Bildnis Giauques in einem neutralen Interieur situiert ist, setzt Clénin das Porträt des Künstlerfreundes als Gartenszene um und unterläuft damit die Erwartung eines klassischen Malerporträts inmitten einer Atelierkulisse. Bis auf die Füsse ganzfigurig ins Bild gesetzt, ruht der Porträtierte lesend und Stumpen rauchend im Gartenlehnstuhl, umgeben von reicher Vegetation. Obwohl in einen Moment der Kontemplation versunken, wirkt seine körperliche Präsenz unmittelbar einnehmend. Der linke, auf der geschwungenen Stuhllehne ruhende Unterarm ragt, in sattem Weiss gemalt, in den Betrachterraum vor und zieht den Blick auf sich. Im Kontrast zum statischen Bildmotiv und zur strengen Diagonalkomposition steht die lockere Pinselschrift sowie der virtuose Umgang mit der Farbe, welche die Szene in flimmernde Bewegung versetzen: Auf dem Hemd des Malers bricht sich das Licht in unterschiedlichen Blau- und Grautönen, die auch Handrücken und Kopfbehaarung durchziehen. Die Büsche im Hintergrund scheinen aufgrund des flächig-fleckigen Farbauftrags und des dynamischen Licht- und Schattenspiels bewegt und körperlich.
Der Gattung des Porträts kommt in der Schweizer Malerei der 1940er-Jahre keine grosse Bedeutung zu; ausgenommen sind Künstler wie René Auberjonois und Max Kämpf, in deren düsteren und teils deformierten Figurendarstellungen sich das aktuelle Zeitbefinden spiegelt. Clénins Malerei hingegen orientiert sich an Vorbildern des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Während in der fleckigen Struktur der Farbe die Beschäftigung mit Paul Cézanne anklingt, greift der Künstler mit dem Porträt in freier Natur auf einen Topos des Impressionismus zurück.
Raphaela Reinmann