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Andriu Deplazes, Regard tordu sur corps assis, 2023
Öl auf Leinwand, 190 x 110 cm
Aargauer Kunsthaus, Aarau
Copyright: ProLitteris, Zürich
Fotocredit: Axel Fried

Als erstes fällt die grosse blaue Tür ins Auge, die gut die Hälfte des Gemäldes Regard tordu sur corps assis (2023) von Andriu Deplazes (*1993) einnimmt. Sie führt unseren Blick zur auf den Treppenstufen sitzenden Figur, die uns direkt anschaut. Die Figur scheint mit ihrer Umgebung beinahe zu verschwimmen, so schimmern Haare und Haut in den Blautönen der Tür und die braune Farbe der Treppe und der Hauswände ist in den Konturen der Figur auszumachen. Die Perspektive ist sichtlich verzerrt oder verdreht, wie es der Titel (“regard tordu”) bereits impliziert. Der Blick von oben herab lässt die Figur noch kleiner wirken, die blaue Tür hingegen scheint im Verhältnis überdimensional gross zu sein.

Wer das künstlerische Werk von Deplazes kennt, weiss, dass seine oftmals androgynen Figuren meist in Landschaften eingebettet sind, die zwischen paradiesischer Unberührtheit und apokalyptischer Stimmung oszillieren. Für Regard tordu sur corps assis wählt Deplazes jedoch einen Hintergrund, welcher der menschlichen Zivilisation entstammt: Ein Hauseingang, wie er eher in einer Stadt – darauf mag das Klingelschild verweisen – als auf dem Land anzutreffen ist. Eine Inspiration wie sie vielleicht dem Alltag des in der französischen Metropole Marseille wohnhaften Künstlers entspringt? Schliesslich greift der Künstler immer wieder persönliche Erfahrungen und Erlebnisse auf und überführt diese in allgemeinere, kollektive Themenkomplexe, in denen es etwa um die Fragen nach Identität oder gesellschaftlichen Machtgefügen geht.

Als Betrachter:in von Regard tordu sur corps assis fühlt man sich schnell ertappt, wohnt dem Blick auf die nur mit einem Tuch um die Hüfte bekleideten Figur doch etwas Voyeuristisches inne. Dass die Figur uns dabei direkt anschaut, verstärkt die Empfindung, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein. Gleichzeitig aktiviert die Szene das eigene Kopfkino: Worauf mag die Figur warten? Hat sie sich aus dem Haus ausgesperrt? Ist es überhaupt ihr Zuhause, das sich hinter der blauen Tür verbirgt? Sitzt die Figur freiwillig auf diesen Treppenstufen oder wurde sie zum Warten verdammt? Deplazes Bilder werfen viele Fragen auf und lassen keine eindeutige Interpretation zu. Sie appellieren das Publikum dabei immer sowohl an eine intellektuelle als auch an eine emotionale Herangehensweise.

Es ist keine perfekte, realistisch figurative Malerei, mit der uns Deplazes konfrontiert. Vielmehr spielt er mit der Abstraktion, lässt die Formen seiner Figuren und Hintergründe zerfliessen, verwendet kräftige Farbtöne und setzt ungewohnte und verzerrte Perspektiven als Stilmittel ein. Dies alles führt zu einer den Gemälden inne wohnenden Ambivalenz zwischen Traumwelt und einer uns vertrauten Wirklichkeit. Oft steht im Vordergrund die Verletzlichkeit von Deplazes’ Figuren, die durch deren Nacktheit noch betont wird. Die Figur in Regard tordu sur corps assis weckt ein Gefühl des Ausgeliefert- und Ausgeschlossenseins – verstärkt durch die Tür, die den Zugang ins Innere des Hauses (vielleicht) verwehrt.

Nebst diesem einen Gemälde befinden sich noch sieben Papierarbeiten von Deplazes in der Aargauer Kunstsammlung. Sie zeugen von dersellben Intensität wie seine Malerei, evozieren aber zugleich eine, dem Medium geschuldete, noch intimere Stimmung.

Bettina Mühlebach, 2025

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