Öl auf Leinwand, 120.3 x 90 cm
Einen eigentlich unfassbaren Moment hält die Künstlerin fest im Bild der beiden jungen Frauen. Einen Augenblick in einer unbekannten, ungeschriebenen Geschichte. Alle Konstituenten des Gemäldes – Komposition, Motive, Dynamik, Farbgebung – evozieren im Zusammenspiel zwei grosse Fragen unseres Daseins: «woher» und «wohin». Indem sie ihr Bild betitelt («Rientro»), stimuliert Anita Spinelli unsere Vorstellungskraft. Dank derer kann sich eine Geschichte entfalten. Diesen narrativen Werkcharakter – Spinelli hat ihn zur Meisterschaft entwickelt – können wir als imaginativ bezeichnen. Im Unterschied zu einer Illustration eröffnet er individuelle Erfahrungs- und Gedankenräume.
99 Jahre alt war Anita Spinelli (1908–2010), als sie das zarte und zugleich kraftvolle Doppelfigurenbild malte. Sie steckte mitten in den Vorbereitungen für ihre Retrospektive 2008/09 im Museo d’Arte Villa Ciani Lugano und war unweigerlich mit sich und der Summe ihrer lebenslangen künstlerischen Tätigkeit befasst. So vereint «Rientro» in sich die Errungenschaften und Erfahrungen einer schon seit acht Jahrzehnten andauernden Künstlerinnenkarriere. Das Gemälde zeugt aber ebenso sehr von einem visionären Blick. «Rientro» also im Sinne von «Wiederkehr»? Oder vielmehr «Heimkehr»? Es ist ein Bild zwischen den Welten und vor allem ein Bild zwischen den Zeiten. Und ein Bild multipler Zustände – das (An-)Erkennen des Alter Ego? Obgleich eines der letzten vollendeten Werke Spinellis, steht «Rientro» nicht singulär da. Vielmehr repräsentiert es ein konzises reifes, eigentlich zeitloses Spätwerk.
1908 in Balerna geboren, schrieb sich Anita Spinelli (geb. Corti) 1925 als eine der ersten Tessiner Künstlerinnen an der renommierten Mailänder Kunstschule Brera ein, wo sie 1933 ihr Diplom erhielt. 1932 heiratete sie Paolo Spinelli und liess sich in Pignora bei Novazzano nieder, wo sie zeitlebens ihr Zuhause und ihr Atelier unterhielt. In den 1930er-Jahren schloss sie sich der Künstlergruppe «I Solidali» an. Dies eröffnete ihr den Zugang zur Kunstszene nördlich der Alpen und viele Beteiligungen an Nationalen Kunstausstellungen. Ihre erste Einzelausstellung hatte sie 1938 auf Einladung des Malers Charles Clément in der Galerie du Lion d’Or in Lausanne. Gleichwohl fand ihr Schaffen ausserhalb des Tessins keine angemessene Rezeption – mit Ausnahmen, beispielsweise der Soloausstellung 1978 im Musée cantonal des beaux-arts in Lausanne. Spinelli erweist sich deshalb auch heute noch als eine grosse Entdeckung. Dies zeigte die Ausstellung «Surrealismus Schweiz» (2018/19 im Aargauer Kunsthaus), in der mehrere ihrer Werke präsentiert wurden, worauf Spinelli auch Eingang in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses fand, unter anderem mit dem Gemälde «Rientro».
Trotz der kompromisslosen Widmung ihres Lebens für die Kunst lebte Spinelli nicht etwa in strenger Zurückgezogenheit, sondern unterhielt ein offenes Haus. Sie stand im Austausch mit Wissenschaftlern, Intellektuellen, jungen Leuten und unternahm immer wieder für ihr Schaffen bedeutungsvolle Reisen: in den Mittelmeerraum, regelmässig in die USA, 1981 nach China, mehrmals nach Afrika und Mittelamerika. Sie interessierte sich ebenso für die Zeugnisse archaischer Kulturen wie für die grossen Kunstmetropolen der Welt. Die jeweils aktuellen Tendenzen – von den Surrealismen der Vor- und Nachkriegszeit über die parallelen abstrakten Strömungen bis etwa zu den neoexpressionistischen Eskapaden der 1980er-Jahre – dienten als Quellen der Inspiration, ausserdem fanden viele davon unmittelbar Eingang in Spinellis Werk, allerdings ohne den geringsten epigonenhaften Anstrich, sondern vielmehr im Sinne einer Parallelität zum jeweiligen Zeitgeist. Und stets umgesetzt in Spinellis eigener, so ausdrucksstarken Bild- und Farbsprache, durchdrungen von einem innigen Interesse am menschlichen Dasein – in Spinellis eigenen Worten: «Amo il prossimo»
Peter Fischer, 2023