Öl auf Leinwand, 82 x 116 cm
Das Gemälde „Sir David Scott“ zählt zum Spätwerk des Berner Malers Ricco (Erich Hans Wassmer, 1915–1972). Bezeichnend hierfür sind der glatte Pinselstrich und eine Erzählweise, die dem Magischen Realismus zuzuordnen ist. An der Grenze zwischen Realität und Fantasiewelt verbinden sich Objekte, Bildzitate und Erinnerungen aus verlorenen Kindertagen zu bühnenhaften Arrangements, in denen schlanke, ernste Knaben die Hauptrolle spielen. Der idealisierten Kindheit nachtrauernd und unter einer nur versteckt auslebbaren Homophilie leidend, suchte der Künstler ab 1946 auf Schiffsreisen nach einem Heimatgefühl, das ihm abhandengekommen war. Seiner Melancholie und Sehnsucht verlieh er in bildnerischen Gegenwelten Ausdruck.
1989 widmete Beat Wismer – damaliger Direktor des Aargauer Kunsthauses – dem Maler eine erste umfassende Retrospektive. Das Gemälde „Sir David Scott“ war eines von 24 Werken, die 2003 als Dauerleihgabe in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses eingingen. Zuletzt gezeigt wurde es 2015/16 in der Retrospektive, die das Berner Kunstmuseum anlässlich von Riccos hundertstem Geburtstag lancierte.
Matrosenbilder, Hafen- und Strandszenerien bilden im Œuvre des Künstlers eine eigene Bildgattung. In dieser Tradition steht auch „Sir David Scott“. Entgegen der klassischen Interieurmalerei widmet sich das Bildthema nicht dem Innen-, sondern dem Aussenraum, der Sehnsucht und Fernsicht – dem Sujet der Seefahrt. Rechts im Bild, auf einem blauen Holztisch und weiss-gelb gestreifter Tischdecke sitzt ein barfüssiger Junge mit Matrosenmütze. Sinnierend blickt er in die Ferne. Auf dem Tisch neben ihm liegt eine asiatische Porzellanmaske mit verblüffend lebendig anmutenden Gesichtszügen. Links im Bild steht ein graziler Hund, der teilnahmslos auf einen Ball am Boden blickt. Dahinter hängt ein wandfüllendes Gemälde, dessen Bildgegenstand ein stattliches Segelschiff ist.
Wie für die meisten seiner Arbeiten stützte sich Ricco auch für diese Komposition auf gefundene Bildvorlagen und Fotografien. Bei dem „Bild im Bild“ handelt es sich um eine ins Grossformat übertragene Kopie der Schiffsabbildung „Sir David Scott“, welche der britische Maler William John Huggins (1781–1845) um 1830 dem britischen Marine-Offizier David Scott widmete. Ricco nutzte die Bildvorlage als kompositorisches Versatzstück und übernahm den Titel des Werks. Für seine surrealen Objektstudien besass der Künstler eine kleine Wunderkammer, in der sich auch die Porzellanmaske befand. Aufgrund seiner Begeisterung für das Fotografieren ersetzten ab 1950 Lichtbilder die zeichnerischen Studien: Für die Pose des Knaben berief er sich auf eine Aufnahme von seinem Modell Stéphane Gilliéron, während er den Hund nach einer Fotografie seines eigenen Windhunds Nardi malte. Für die Grundstruktur der Komposition orientierte er sich an einer zehn Jahre alten Postkarte mit der Aufschrift „CAPRI…DALLA FINESTRA“ (Capri … vom Fenster aus gesehen). Dargestellt ist ein Pin-up-Girl vor einem offenen Fenster, das den Blick auf eine Parkanlage am Meer freigibt. Indem er den Bildaufbau übernimmt und einzelne Elemente austauscht, erzielt der Maler eine Zuspitzung der Bildaussage. Aus einer humoristischen Anspielung auf einen Urlaub am Wohnzimmerfenster wurde ein Sehnsuchtsbild, in dem ein Gemälde den Blick aus dem Fenster ersetzt. Die Lebendigkeit im Ausdruck des Wandgemäldes und der Maske stehen dabei in einem merkwürdigen Gegensatz zur starren Haltung des Knaben und des Hundes. Verschiebungen wie diese weichen die Grenzen zwischen Realität und Staffage auf und verleihen dem Bild seine geheimnisvolle Wirkung.
Julia Schallberger