Öl auf Leinwand, 54 x 60 cm
Die drei titelgebenden Orangen dominieren die Bildwirkung des Stilllebens von Cuno Amiet (1868–1961). Scheinbar zufällig liegen sie da. Auf den zweiten Blick wird jedoch ihr sorgfältiges Arrangement deutlich: Während die mittlere Frucht auf der zentralen Bildachse platziert ist, sind die beiden anderen Orangen in unterschiedlich grossen Abständen links und rechts von der mittleren gesetzt und umgeben die im Bildmittelgrund stehende Vase. Sie ist von den zu grünen Flächen synthetisierten Pflanzenblättern fast nicht zu unterscheiden. Dahinter können weitere Gegenstände ausgemacht werden: rechts eine kleine Schachtel, links vielleicht Briefe oder Skizzen, die als gestaffelte Rechteckformen angedeutet sind. Die räumliche Situation ist durch die Überlagerung der Blumen mit den in die Höhe wachsenden, vom oberen Bildrand angeschnittenen grünen Pflanzenblättern unbestimmt und durch die verschiedenen unvollständig dargestellten Objekte komplex. Ruhe, aber keine Klärung der räumlichen Situation bringt die grosszügig gehaltene ockerfarbige Wandfläche, auf der ein Bildausschnitt erkennbar ist. Überraschend wirkt der Farbwechsel der rechten Fläche im Hintergrund, der die dekorative, dichte Wirkung und die vielteilige Komposition des Gemäldes zusätzlich betont.
Die Datierung auf Ende 1907 oder, aufgrund der Orangensaison in den Wintermonaten, auf Anfang 1908 gründet in der Annahme, dass Amiet mit dem Bild auf die Begegnung mit Werken der „Brücke“-Künstler reagiert, die er im Herbst 1907 erstmals im Original sieht (siehe Franz Müller, Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA, Werkkatalog Cuno Amiet). Dafür sprechen die intensiven, flächig aufgetragenen Farbtöne und die starken Komplementärkontraste zwischen leuchtendem Orange und unterschiedlich abgestuften Blautönen sowie zwischen Grün und Rot. Auffällig sind zudem die blauen Linien, welche die Formen umschliessen. Amiet greift damit auf das Stilelement des Cloisonismus zurück, das er während seines Aufenthalts 1892/93 in der bretonischen Künstlerkolonie in Pont-Aven insbesondere durch den französischen Künstler Emile Bernard (1868–1941) kennenlernt. Der Aufenthalt in der Bretagne und das dort erlernte Farb- und Formenverständnis führen bei Amiet zu kühnen Kompositionen und einer leuchtenden Palette. Die Expressivität und der Zusammenklang von Farbflächen, die seine Werke auszeichnen, erweisen Amiet als einen Vertreter des Fauvismus. Seine Kunst begeistert die jungen deutschen Expressionisten; ihre Auseinandersetzung mit Amiets Werken spielt bei der Gründung der Künstlervereinigung „Die Brücke“ eine wichtige Rolle. Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Erich Heckel (1883–1970) und Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) sehen Arbeiten von Amiet anlässlich seiner Ausstellung im Jahr 1905 in der Dresdner Galerie Richter und beschliessen kurz darauf, Amiet als Mitglied einzuladen. Als einziger Schweizer Künstler tritt er 1906 der „Brücke“ bei und gehört der Vereinigung bis zur Auflösung der Gruppe im Jahr 1913 an.
Als Amiet im Oktober 1907 eine „Brücke“-Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn in die Wege leitet und die Werke seiner Malerkollegen sieht, steht er den Arbeiten jedoch reserviert gegenüber. Die radikale Subjektivität und die direkte Malweise seiner deutschen Kollegen stossen bei ihm auf Unverständnis, inhaltlich und formal verfolgt er einen anderen Expressionismus. Gleichwohl dürfte er an ihrer dynamischen Pinselführung und den zackig gezogenen Konturen Gefallen gefunden haben. Amiet nimmt verschiedentlich an Ausstellungen der „Brücke“-Künstler teil, für ihn ist aber weiterhin die französische Malerei zentral. Seine Verbindung zur „Brücke“ blieb in der Literatur lange unerwähnt – eine bis heute gültige, bedeutende Studie über Amiets Austausch mit der „Brücke“ wurde erst 1979 vom amerikanischen Kunsthistoriker George Mauner geschrieben, gefolgt von einer Ausstellung im Kunsthaus Zürich und im Brücke Museum Berlin. Amiets Verbindung zur „Brücke“ wurde darauf in verschiedenen Ausstellungen aufgenommen. Dies widerspiegelt sich auch in der Ausstellungsgeschichte des „Stilllebens mit drei Orangen“. So wurde das Gemälde 2001/02 etwa nach Dresden an die „Brücke“-Ausstellung ausgeliehen oder 1999/2000 in der von Mauner mitverantworteten Ausstellung im Kunstmuseum Bern „Cuno Amiet. Von Pont-Aven zur ‚Brücke'“ gezeigt. Der in diesem Ausstellungstitel angedeutete Brückenschlag weist auf Amiets singuläre Position als Vermittler zwischen der französischen und deutschen expressiven Malerei hin. Diese Verbindung gelang ihm auch in seiner eigenen Malerei.
Patricia Bieder, 2019