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Walter Kurt Wiemken, Der Photograph, 1932
Öl auf Leinwand, auf Pavatex, 61 x 74 cm, Gemälde
Aargauer Kunsthaus Aarau

Das Aargauer Kunsthaus besass bis anhin vom früh verstorbenen Basler Maler Walter Kurt Wiemken ein einziges Gemälde: „Am Rande des Abgrunds“ (1936) nimmt Bezug auf den Spanischen Bürgerkrieg und thematisiert darüber hinaus menschliche Abgründe im Allgemeinen. Mit dem Erwerb des Werkes „Der Photograph“ (1932) konnte die kleine Gruppe von Wiemken-Werken, die ausserdem noch drei Papierarbeiten umfasst, sinnvoll ergänzt werden.
Wiemkens Œuvre geriet trotz seiner grossen Qualitäten und seines beachtlichen Umfangs in Vergessenheit. Dabei wurde die Bedeutung seines Schaffens bereits zu Lebzeiten erkannt, und seine Werke wurden an wichtigen Ausstellungen, unter anderem an der ersten Documenta 1955 in Kassel, gezeigt.

Wiemken, der den „Grenzgängern zwischen dem Realen und dem Fantastischen“ (Stephan Kunz) zugerechnet werden kann, gehört zusammen mit Max von Moos und Kurt Seligmann zur Schweizer Gruppe der Surrealisten. Zur Zeit der Entstehung des Gemäldes „Der Photograph“ in den frühen 1930er-Jahren beschäftigte er sich einerseits mit dem deutschen Gesellschaftskritiker Georg Grosz. Andererseits setzte er sich auf Anregung seiner Freunde Serge Brignoni und Kurt Seligmann intensiv mit dem französischen Surrealismus, vor allem mit den entsprechenden Werken Pablo Picassos, auseinander. Von diesen Recherchen ausgehend suchte Wiemken nach den für ihn adäquaten bildnerischen Mitteln und Ausdrucksmöglichkeiten. Das vorliegende Werk kann als erstes Ergebnis dieser Untersuchungen angesehen werden. Die konkrete Anregung zur Bildidee fand er 1932 durch die Begegnung mit einem fahrenden Fotografen im südfranzösischen Collioure, wo Wiemken gemeinsam mit seinen engsten Künstlerfreunden Walter Bodmer und Otto Abt mehrere Sommer verbrachte.

In einen leeren, blauen Hintergrund ist wie schwebend die dünnwandige Konstruktion einer Fotografenkulisse gestellt. In dieser sitzt ein weibliches Aktmodell zwischen verschiedenen Requisiten, die auch ausserhalb des Atelierwinkels sichtbar sind. Die nackte Frau hat sich für den hinter Stativ und Apparat stehenden Fotografen in Pose geworfen. Der violette Lichtkegel der Kamera beleuchtet, umströmt und durchdringt sie zugleich. Rechts oben hat der Maler das Modell und das hinter ihr stehende, schwarze Blumenpostament als dunkles Schattenspiel an die Atelierwand projiziert.

Der Fotograf durchleuchtet die Frau ähnlich einer Röntgenaufnahme und macht ihr Innenleben sichtbar. Dabei erhält die ganze Szene eine ironische Note, wenn Wiemken die sich in Szene setzende Porträtierte nicht als blühende Verführerin, sondern als gespensterhafte, bleiche und fast durchsichtige Fratze darstellt, aus deren Innern aus Gerippe, Herz und Blutbahnen er einen zarten Baum wachsen lässt. Der schablonenhafte Fotograf seinerseits wird zur schemenhaften und zerbrechlichen Figur, der in seiner körperlichen Versehrtheit an den Maler gemahnt. Der helle Aktionsraum dieses Bildes mit seinen gespensterhaften Menschen, dem reduzierten Mobiliar und den wenigen Ausstattungsgegenständen wird zur komplexen Weltbühne, auf der sich alltägliche Tragödien abspielen können.

Walter Kurt Wiemkens Bilder sind sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der kompositorischen Ebene oft auf Gegensätzen aufgebaut, wie arm und reich, Leben und Tod, Engel und Teufel oder dem Wechsel zwischen räumlicher und zweidimensionaler Bildebene, einer leichten malerischen Gestaltung neben einem geometrisch-konstruktivistischen Zeichengerüst, starken Farbakzenten und Helldunkelkontrasten.

Das Motiv des Blickes unter die Oberfläche, wo Wiemken einer äusseren Realität spannungsreich eine innere Wirklichkeit gegenüberstellt, nimmt in diesem Gemälde seinen Anfang und ist bei „Am Rande des Abgrunds“ zu einem ersten Höhepunkt gelangt.

Wiemken litt physisch und psychisch an den bleibenden Folgen einer Kinderlähmung, die ihn zeitlebens auf Hilfe angewiesen sein liess. Diese existentielle Erfahrung machte ihn ausserordentlich emphatisch für sozial Schwächere, gesellschaftliche Aussenseiter und Benachteiligte. Als Maler suchte er immer wieder die psychologische Dimension gesellschaftlicher Phänomene zu veranschaulichen. Die Deformation der äusseren Welt unter Einbezug innerer Wirklichkeiten ist bei Wiemken ein Gestaltungsmittel, um sich gegen das tragische Weltgeschehen aufzulehnen; es kennzeichnet sein ganzes weiteres Schaffen.

Das Gemälde „Der Photograph“ gelangte in die Sammlung des Grafikers Hermann Eidenbenz (1902–1993), der zusammen mit seinen Brüdern Willi und Reinhold das avantgardistische „Atelier Eidenbenz für Fotografie und Grafik“ in Basel führte. Eidenbenz war wie Wiemken Mitglied der Basler Künstlergruppe 33; er kannte Wiemken seit den 1930er-Jahren und hat das Werk vermutlich direkt vom Künstler erworben. Später ging es in die Privatsammlung von Ruth und Peter Herzog in Basel über, die eine der bedeutendsten Photosammlungen weltweit aufgebaut und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Von ihnen konnte das Werk direkt für die Aargauische Kunstsammlung erworben werden.

Corinne Sotzek

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