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Helen Dahm, Tessiner Frühling, ohne Jahr
Öl auf Holz, 79.7 x 71.9 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum Sammlung Werner Coninx
Copyright: gemeinfrei
Fotocredit: Philipp Hitz

Anmutige Blütendolden, weitläufige Landschaften oder wuchernde Gewächse ziehen sich als Motive durch jede Schaffensphase Helen Dahms (1878–1968). Die Natur bleibt ein Ausgangspunkt ihrer Arbeiten, so auch im Gemälde „Tessiner Frühling“, das eine Baumgruppe in einer hügeligen Landschaft zeigt. Der Kontrast zwischen den kräftig leuchtenden Grün- und Weisstönen der Blätter und Blüten, welche die Malerin neben erdig gedeckte Farben setzt, und die dunkle Konturierung der Stämme geben die expressionistischen Wurzeln Dahms zu erkennen.

Nach dem Verschwinden ihres Vaters übernimmt sie die Studentenpension in Zürich, die ihre Mutter krankheitsbedingt nicht mehr führen kann und besucht nebenbei Abendkurse an der Kunstgewerbeschule. 25-jährig brennt sie mit ihrer Freundin, der Kunsthistorikerin Else Strantz (1866–1947) nach München durch, um an der Akademie der Bildenden Künste zu studieren. Ein zu der Zeit bedeutender Schritt, denn Frauen wurden weitestgehend aus Kunstschulen ausgeschlossen und die Anerkennung blieb im von Männern geprägten Kunstbetrieb oft aus. In München entwickelt sie ihren ganz spezifischen Stil kombiniert aus Symbolismus und deutschem Expressionismus. Der Kontakt zu den KünstlerInnen der Vereinigung „Blauer Reiter“ prägt sie stark. Die farbintensive und kontrastreiche Malweise mit oft archaischem Formenvokabular wird sie zeitlebens beibehalten. „Tessiner Frühling“ reiht sich darin lückenlos ein. Nach dem Umzug zurück in die Schweiz ziehen sich Dahm und Strantz 1919 nach Oetwil am See in ein naturverbundenes Leben zurück.

Ende der 1940er-Jahre hält sich Dahm aus gesundheitlichen Gründen zu einem Kuraufenthalt im Tessin auf. Obwohl das Gemälde undatiert ist, ist es gut möglich, dass „Tessiner Frühling“ in diesem Zusammenhang entstanden ist. 1951 war es in der Galerie Chichio Haller in Zürich ausgestellt – an einem Ort, an dem der Kunstsammler Werner Coninx (1911–1980) regelmässig Kunde war. Ein Schwerpunkt der Sammlung Coninx bilden die Expressionisten, sodass die schon zu Lebzeiten als „einzige Schweizer Expressionistin“ genannte Dahm darin nicht fehlen durfte. Als eine der wenigen weiblichen Künstlerinnen in der Sammlung Coninx ist sie sogar mit mehreren Werken vertreten. Seit 2016 befindet sich „Tessiner Frühling“ als Dauerleihgabe im Aargauer Kunsthaus.

Nach der Trennung von Strantz verlässt die 60-jährige Dahm die beschauliche Ortschaft am Zürichsee, entschlossen, ihrem langjährigen Freund und Mystiker Meher Baba nach Indien zu folgen. Doch kehrt sie schon kurze Zeit später zurück. In Oetwil lebt die Turban tragende und exzessiv rauchende Künstlerin ein Leben ganz im Sinne lebensreformistischer Ideale, bleibt aber der Zürcher Kunstszene aktiv verbunden – einer Szene, die ihr zu Lebzeiten nur spärlich und spät Aufmerksamkeit schenkt. Erst 1953 findet eine Retrospektive im Helmhaus in Zürich statt und 1954 nimmt sie als erste Frau überhaupt den Zürcher Kunstpreis entgegen. Endlich blickt die breite Öffentlichkeit auf die zur exzentrischen Einsiedlerin stilisierte, bereits 75-jährige Künstlerin. Endlich kommt ihr die längst verdiente Aufmerksamkeit zugute. Bis an ihr Lebensende hält sie eisern daran fest, im männerdominierten Kunstbetrieb Fuss zu fassen. Sie arbeitet bis zu einem verhängnisvollen Sturz, an dessen Folgen sie 90-jährig verstirbt. Ihre Hinterlassenschaft, ein beeindruckendes Œuvre von über 2200 Werken, erinnert bis heute an die starke Künstlerpersönlichkeit und ihr aussergewöhnliches Schaffen.

Nurja G. Ritter

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