Monotypie auf Papier, je Bild 32 x 24 x 1 cm
Aus der grossen Einzelschau «Vitamin», die Augustin Rebetez (*1986) im Frühling 2023 im Aargauer Kunsthaus einrichtet, finden im Anschluss zahlreiche Werke Aufnahme in die Sammlung. Hierzu zählt auch die elfteilige Folge von Monotypien «The Ten Commandments» (2023), die der Künstler im zweitletzten Raum platziert. Seite an Seite mit einer Auswahl von «Totems» (2023) und der Installation «Cosmos» (2023) kommt ihr so die Aufgabe zu, den sonst über weite Strecken schrillen Rundgang besinnlich zu beschliessen.
Besinnlich? Bereits ein kurzer Blick auf die Serie und ihr Titelblatt offenbart, wie der Künstler darin die Zehn Gebote aus dem Alten Testament höchst eigenwillig unterläuft. Ganz fremd ist das nicht, denn seit je zirkulieren davon verschiedene Versionen. Schon die ältesten Bibeltexte überliefern im 2. und 5. Buch Mose leicht voneinander abweichende Wortlaute. Spätere Entwicklungen, sei es infolge von Übersetzungen oder theologischer Differenzen, treiben die Zahl der Varianten dann sprunghaft nach oben, derweil katechetische Kurzformen die religiösen und ethischen Direktiven tief im Gewissen der Menschen verankern. Speziell die Gesellschaften des Westens sind seither durch und durch von den apodiktischen Formeln «Du sollst …» respektive «Du sollst nicht …» geprägt.
Woran aber glaubt die säkularisierte Welt? Was dient der rundum medialisierten Gegenwart noch als Kitt? Rebetez gibt sich diesbezüglich illusionslos. Radikal bricht er mit den biblischen Ge- und Verboten, die einstmals Gemeinschaft stifteten, und ersetzt sie, in die Ich Perspektive wechselnd, durch individualistische Gelöbnisse und Verhaltensdiktate von heute. Ratgeberkultur, Effizienzdruck oder auch Stress durch Dauererreichbarkeit und telefonisch ausgelebte Logorrhö sind dabei noch banale Phänomene. Tiefer zielen die Aussagen, die sich mehr oder weniger direkt auf die grossen Herausforderungen der Zeit beziehen: kippende Weltordnung, Klima, Überkonsum. In einer bunten Mischung von Haltungen – Fatalismus, Sarkasmus, Selbstironie – tippt der umtriebige Jurassier all diese Dinge an und paart sie mit anspielungsreichen Zeichnungen. Inhaltlich legt er dabei manchmal Spuren zu den originalen Zehn Geboten, etwa wenn er von Polyamorie und kaputten Ehen oder Gewaltanwandlungen spricht. Visuell und sprachlich stellt er seine gewohnt saloppe Ausdrucksform unter Beweis. Sich zwischen Slogan und Credo bewegend, verfällt er dabei ab dem vierten Blatt ebenfalls in eine wiederkehrende Formel, nach der ein verpflichtendes «I will …» stets durch ein «but…» zurückgenommen wird. Lippenbekenntnisse, so lehrt uns die Arbeit, führen nirgendwohin, sondern sind die Mantras von Selbstoptimierern und Narzissten.
Mit «The Ten Commandments» schreibt sich Rebetez in eine lange Liste klangvoller Namen ein. Zu jenen, die das Thema bibeltreu behandeln, zählen beispielsweise Cranach d. Ä., Hans Baldung Grien, Rembrandt, Doré und Chagall. Jüngere, frechere Exegeten finden sich etwa in Keith Haring, der für das CAPC in Bordeaux – ein fast schon sakrales, einstiges Lagerhaus – 1985 einen raumfüllenden Zyklus malt, oder in Rocker Udo Lindenberg, der die Menschen mit «Udos 10 Gebote» (2002) zurück in die Kirchen holt. In der Schweiz ist das Thema zur Entstehungszeit von Rebetez’ Arbeit dank Frank und Patrik Riklin präsent. Als Projekt ihres Ateliers für Sonderaufgaben meisseln die Brüder im Sommer 2020 auf dem St. Galler Klosterplatz ihre «Zehn Gebote Vol. 2» in dicke Platten aus Sandstein. Mit diesen Tafeln, die insgesamt eine Tonne wiegen, pilgern sie anschliessend im Rahmen mehrerer von den Behörden und Medien eng verfolgten Kunstaktionen quer durch Stadt und Land, mit dem Ziel, Dialoge anzustossen. Rebetez dagegen bleibt allein dem Ego seiner Akteure verpflichtet. Kratzig in Wort und Bild, hält er uns den Spiegel so gleichwohl vor.
Astrid Näff, 2024