Bronze, Diverse Masse
Nachdem wir zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden in der Primarschule ins Kino gehen durften, um uns Jurassic Parc anzuschauen, wollten wir alle Archäologie studieren. Wir gingen ins Dinomuseum und bettelten bei unseren Eltern darum, uns diese Werkzeuge zu kaufen, Pinsel und Gips, um selbst Abdrücke anzufertigen und sie altklug im Nachttisch zu konservieren. Diese Begeisterung verflog auch nicht, als wir merkten, dass es in der Schweiz gar keine Dinoskelette zu entdecken gab. Das Anfertigen eines Krähenfussabdrucks aus dem Limmattaler Waldschlamm war unserer kindlichen Fantasie Jurazeit genug.
Vor der Eröffnung von Augustin Rebetez‘ (*1986) erster grosser Einzelausstellung „Vitamin“ im Aargauer Kunsthaus (18.2.–29.5.2023) gab es eine Personalführung, zu der ein Techniker auch seine Tochter mitbrachte. Nach der Führung stand ich mit den beiden im Innenhof des Erdgeschoss. In unserer Mitte glühte das Werk „The Family“ (2023) in der winterlichen Abenddämmerung unheilvoll jedoch überzeitlich im Scheinwerferlicht. Timo, der Techniker, zeigte auf die fünfteilige Skulpturengruppe, die einem Schwarm schwarzer Vögel nachempfunden wurde, und fragte „Wie macht‘s?“. – Das Kind erfüllte den Innenhof mit einem langgezogenen und nur wenig heiseren, dafür aber schrillen Gekreische. Das waren nicht die Laute eines Vogels, die hier imitiert wurden: So stellten wir uns als Kinder das gespenstische Krähen von Flugdinosauriern über unseren Köpfen vor. Ich war im Aargauer Kunsthaus im Februar 2023 und ich war gleichzeitig irgendwo im Sumpf, der damals noch nicht Schweiz hiess, vor Abermillionen Jahren.
Augustin Rebetez stammt aus dem Jura. Seine Vögel, die als Neuproduktion direkt nach der Aarauer Ausstellung in die Sammlung des Kunsthauses eingingen, stehen also in einer doppelten Verbindung mit dieser Region, die auch Urzeit ist. Wie Schatten vager Vorahnungen werden Rebetez‘ mit schwarzem Wachs beschichteten Krähen fortan, auf Metallstäben montiert, ihre Kreise in unserer Kunstgeschichte ziehen. Sie sind nicht nur Produkte eines fulminanten Entstehungsprozess – Bronze aus Feuer und Glut der Kunstgiesserei Rüetschi in Aarau – sondern auch Zeugen für Rebetez‘ Fähigkeit, tief aus dem Urschlamm unseres kollektiven Gedächtnis Abdrücke in überdauernder Kunst gerinnen zu lassen. Der Künstler schafft Bilder, die uns als Menschen einen. „The Family“ appelliert deshalb nicht nur an unsere ureigenen Träume und Wünsche, sondern erinnert auch an die Erde als Herkunftsort für alles Leben gestern, heute und morgen. „we are birds. we can’t fly. but we can try“ lautete dann auch Rebetez‘ inoffizieller, aber wunderbar poetischer Untertitel für diese Schenkung der Freunde der Aargauischen Kunstsammlung. Von jung bis älter wird „The Family“ noch viele Generationen zum Träumen anregen – vom Fliegen, von Gemeinschaft oder von der Erkundung immer neuer Geschichten und Welten.
Bassma El Adisey, 2024