Öl auf Asbestfaserplatte (Eternit), 62 x 60 cm
Das Brustbild zeigt die Bäuerin Louise Grütter, die in der Nachbarschaft von Cuno Amiet (1868–1961) und seiner Frau Anna auf der Oschwand lebt, einem malerischen Ort in den Berner Buchsibergen. In späteren Jahren unterstützt sie Cuno und Anna Amiet auch bei Haushaltsarbeiten. Sie ist frontal dargestellt, ihr Gesicht ist seitlich geneigt und im Profil erfasst. Für eine gewisse Irritation sorgt ihre entblösste hängende Brust.
Louise Grütter steht Amiet ab 1905 häufig Modell, zuerst als werdende, dann als junge Mutter, wie mehrere Ölgemälde und eine Gruppe von Pastellen und Zeichnungen beweisen. Ein Jahr vor der Entstehung des Bildes aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses hat Amiet sie als stillende Mutter mit ihrem Kind gemalt, später entstehen auch experimentelle Halbakte. Im Bild „Bauernfrau“ sitzt Louise Grütter dem Maler in lockerer Haltung gegenüber. Die friedliche Ruhe und die natürliche Sinnlichkeit, die von diesem Bild ausgehen, werden von einem expressiven Duktus begleitet. Vor dem lichten Hintergrund, den Amiet mit Streifen in komplementärem Blau und Rosa gestaltet, entfaltet das Weiss der einfachen Bluse eine grosse Leuchtkraft. Ins Auge fallen zudem die parallel geführten breiten Pinselstriche in Rot, Grün, Blau und Gelb, die Amiet über das Haar und die Stirn seines Modells führt und dabei im Vergleich zu den Streifen im Hintergrund einen anderen Strichverlauf wählt. Die komplementären Farbkontraste verleihen dem Gesicht Lebendigkeit und Wärme. Es wirkt, als ob sich das Licht im Haar und in der Stirn von Louise Grütter spiegeln würde. Auch auf dem Dekolleté und der Brust ist das Licht- und Schattenspiel eingefangen, hier mit pointillistisch aufgesetzten Flecken.
Die Farbpalette und die divisionistische Malweise mit breiteren und feineren Streifen gehen auf Amiets Zeit im bretonischen Pont-Aven zurück. In der von einem Malerkreis um Paul Gauguin gegründeten postimpressionistischen Künstlerkolonie lebt der Maler 13 Monate in den Jahren 1983/93, nachdem er einen Studienaufenthalt in Paris verbracht hat. Über Paul Sérusier (1864–1927) und den irischen Künstler Roderic O’Conor (1860–1940) lernt Amiet eine expressive Maltechnik kennen, die sich auf den charakteristischen Duktus von Vincent van Gogh (1853–1890) bezieht, und er beginnt, mit reinen Farben zu arbeiten. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1893 setzt Amiet die stilistischen Anregungen aus Pont-Aven in eigenständiger Weise um. Auch seine Farben haben an Leuchtkraft gewonnen. Er steigert die koloristische Wirkung seiner Bilder durch Komplementärkontraste. Die erhoffte Anerkennung durch das Publikum bleibt jedoch aus, Amiets avantgardistischer Stil wird von vielen (noch) nicht verstanden. 1897 lernt er den damaligen Doyen der Schweizer Kunst, Ferdinand Hodler (1853–1918), kennen, dessen Symbolismus Amiet aufgreift. Es entstehen symbolistisch motivierte Werke, in denen eine stilistische Hinwendung zur altdeutschen Malerei erkennbar ist. Im Gegensatz zu Hodlers kosmischen Visionen ist Amiet jedoch dem Diesseits verpflichtet, sein Paradies ist ein irdisches. Seine Motive findet er in der Natur und der nahen Umgebung auf der Oschwand – wovon auch die „Bauernfrau“ zeugt. Amiet versucht sich ab 1904 zunehmend von der Dominanz Hodlers zu lösen. Einen Bruch erfährt ihre Freundschaft im gleichen Jahr mit der gemeinsamen Ausstellung in der Wiener Secession. Amiet wird mit dem Vorwurf der Epigonalität konfrontiert; eine Kritik, gegen die Hodler seinen Freund nicht verteidigt. In der Folge emanzipiert sich Amiet von Hodler und besinnt sich auf die französische expressive Maltradition, insbesondere auf die Erfahrungen aus Pont-Aven. Ebenso bedeutend ist seine in diesen Jahren wieder intensivierte Beschäftigung mit der Malerei van Goghs. Dank Amiets ausgeprägtem Sinn für Farben und kühne Kontraste sowie seiner Behandlung der Formen und einem variantenreichen Divisionismus entstehen im Frühwerk bis 1918 meisterhafte Kompositionen, die seine Stellung als Wegbereiter der Schweizer Moderne deutlich machen.
Patricia Bieder