Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
X
Katrin Freisager, Pipilotti, 1995
C-Print auf Aluminium, 167 x 82 cm, Fotografie
Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum der Sammlung Andreas Züst

Der Blick bleibt am klobigen blauen Plastik hängen, der den Ringfinger des rechten Arms umschliesst. Das Accessoire fällt auf, sticht nicht nur wegen seiner komplementären Farbgebung im textilweichen Ensemble aus Orange-, Weiss- und Nudetönen heraus. Sowieso seltsam, dieser Schmuck. Ein goldener Ring am rechten Mittelfinger und einer am linken Ringfinger. Am rechten Handgelenk eine silberfarbene Armbanduhr mit elastischem Gliederband und eckigem schwarzen Ziffernblatt. Vor allem die Uhr stört, verweist auf eine Zeitordnung, die der enthemmten und zwanglosen Stimmung dieser Gesamtinszenierung entgegenläuft. Gleichzeitig wirft gerade sie die Frage auf, wieviel hier für die Kamera gestellt ist und wo die Künstlerin bewusst zeigt, um anderenorts wieder zu verbergen.

Das Werk von Katrin Freisager (*1960) stammt aus dem Jahr 1995. Die auf Aluminium aufgezogene Farbfotografie bildet dem Titel zufolge „Pipilotti“ (Rist natürlich) in Lebensgrösse ab, die von Freisager von Oben herab fotografiert wurde. Den Oberkörper nur mit einem BH bekleidet, liegt die dunkelhaarige weibliche Figur auf dem beigen Drell-Gewebe einer Matratze mit Retroprint. Der florale, orangefarbene Textildruck der Unterlage korrespondiert mit den lachsroten Kringeln auf weissem Grund des Push-Up. Als wäre er Teil des Interieurs, lässt Freisager den Körper, und allem voran die nackten Hautstellen, mit der Szene verschmelzen. Wie zum Plié ansetzend, sind die Beine des Models in O-Form angewinkelt, und wäre da nicht eine ungezwungene Gelassenheit in der entspannt liegenden Körperhaltung erkennbar, würden die nach unten gerichteten Zehenspitzen in weisser Strumpfhose fast an die strenge Erscheinung einer Balletttänzerin erinnern. Ohne eine Spur der typischen gedanklichen Versunkenheit, die Edgar Degas (1834–1917) in seinen impressionistischen Gemälden für diesen Berufsstand definierte, blickt Pipilotti unverhohlen direkt aus dem Bild heraus in die Kameralinse. Freisagers zentrale und klar strukturierte Bildkomposition macht eine neue Form plastischer Intimität sichtbar, die sich jenseits der bekannten Beobachtung absorbierter Innerlichkeit abspielt und Betrachtende ganz nahe auf der Bühne der bewussten Wahrnehmung von Körperlichkeit mit auftreten lässt. Langsam gleiten die Augen von den Füssen aufwärts über den porzellanweissen, seidenmatten Nylon. Eng umfasst das Polyamid die Beine und mit dem Blick langsam zum Schritt wandernd, scheint dort, wo der Stoff durch die gespreizte Haltung der Oberschenkel spannt, die dichte, bläulich schimmernde Behaarung des Schambereichs durch. Wie zufällig ruhen daneben die mit Ringen bestückten Hände im Schoss.

Als besonders innovative Provokation kann die Ansicht der behaarten Vulva spätestens seit Gustave Courbets (1819–1877) „L’origine du mond“e (1866) nicht erachtet werden. Auch hinter verschlossene Türen, wie in Marcel Duchamps (1887–1868) „Étant donnés“ (1946–1966), gehört die freigebige Darstellung des Frauenkörpers in der künstlichen Landschaft – auf Blumen gebettet! – zum Zeitpunkt der Entstehung von Katrin Freisagers Werk gewiss nicht mehr. Weshalb halten wir uns mit den Augen also verkrampft am blauen Plastikring fest, schauen, im Voyeurismus ertappt, zu Boden auf die eigenen Füsse, um dann fast zwanghaft ins Gesicht der Fotografierten zu schauen? Plötzlich fällt auf, dass eben dieses Gesicht – von dunklem Haar gerahmt und aus der Untersicht aufgenommen – den Unterschied macht: Zwar nicht gänzlich entkleidet, eröffnet Freisager, entgegen der Vorstellung ihrer männlichen Vorgänger, einen doppelten Blick auf das Innerste des Weiblichen. Kein gesichtsloser Unterleib wird hier, fragil und schutzlos, zum Hauptakteur gemacht. Stattdessen erschliesst Freisager einen Raum, in dem sich die ausgestellte weibliche Figur über das mit Vornamen bezeichnete Individuum hinwegsetzt – Freisagers „Pipilotti“ ist nicht identisch mit der berühmten Künstlerinnenfigur. Ausserdem entzieht Freisager diesen weiblichen Körper der reinen Objektwerdung als Teil eines ansprechenden Bildornaments. Das Werk ist hier als Gesamtinszenierung von Körper im Raum gelungen und grenzt sich dadurch ganz klar von Mode- oder auch Erotikfotografien ab. Sinnlich durchaus, nicht aber aufgrund äusserer Reize, vielmehr durch die selbstbewusste Darstellung in einer verletzlichen und zutiefst intimen Situation.

Mit ihren Matratzenbildern erlangte Katrin Freisager Mitte der 1990er-Jahre erstmals grosse Beachtung in der Schweizer Kunstszene. Nebst dem Werk „Pipilotti“ befindet sich aus dem Depositum der Sammlung von Andreas Züst auch noch die Fotografie „Nadia“ (1995) derselben Reihe in den Beständen des Aargauer Kunsthaus. Über Augenhöhe gehängt und somit die gewohnten Betrachtungsweisen der Ausstellungsbesuchenden hinterfragend, stehen die Werke exemplarisch für Freisagers unablässige Auseinandersetzung mit den Widersprüchen, die sich in den vielgestaltigen Perspektivwechseln auf die Welt eröffnen.

Bassma El Adisey, 2022

X