Acryl auf Baumwolle, 460 x 1150 cm
Bulevistan – ein Wort, das sich auf keiner Landkarte findet, uns aber gedanklich auf Reisen schickt. Nach Osten, ans Schwarze Meer vielleicht. Oder auch über dessen Ufer hinaus ins Herz von Eurasien, wo sich Orient und Okzident in Ländern, deren Name auf „stan“ endet, seit Jahrtausenden begegnen. Ein Wort, das uns jedenfalls mindestens an den Bosporus trägt.
Ausgedacht hat sich den Neologismus die Künstlerin Renée Levi (*1960). Zu lesen ist er in Form einer Folge von kleinen lateinischen Lettern, die neben kräftige blaue Pinselstriche in die jeweils obere linke Ecke der zehn Leinwände gesetzt sind, aus denen die gleichnamige Arbeit „Bulevistan“ besteht. Einzig das E tanzt aus der Reihe und lädt durch seine abweichende Position dazu ein, die Buchstaben in eine andere Abfolge zu bringen. Beginnt man unten links und springt dann zur oberen Zeile, so ergibt sich der Schriftzug Istanbul, der zunächst einmal auf die Entstehung des Werks für die Ausstellung „Hot Spot Istanbul“ im Museum Haus Konstruktiv in Zürich verweist. Istanbul ist aber auch Levis Geburtsort und seit vielen Generationen die Heimat ihrer Familie. Das beengende Klima, das die Stadt 1955 befällt, zwingt indes immer mehr Angehörige von Minderheiten in die Emigration. So auch Levis Eltern, die mit ihr 1964 in den Aargau ziehen. Auf diese neue Umgebung spielt die unveränderte Lesart des Wortes an, bilden die Silben „BU“ („das“), „LEVI“ und „STAN“ („Ort des“ oder „Heimat von“) doch knapp und affirmativ das Bekenntnis „Das ist Levi-Land“. Dass die Künstlerin dieses ihr wichtige Werk dem Aargauer Kunsthaus geschenkt hat, ist ein folgerichtiger Ausdruck ihres engen Bezugs zum Kanton.
Als eigentliches „Levi-Land“ muss aber die Malerei gelten. Mit deren Bedingungen und Limitationen befasst sich die Künstlerin seit 1987, als sie ihre Stelle als Architektin im Büro Herzog & de Meuron aufgab, um ein Zweitstudium in Bildender Kunst zu beginnen. Die im Kunsthaus bislang zusammengekommene Werkgruppe macht den seither verfolgten, konsequent nach dem Ort und der Art des Malvorgangs fragenden Ansatz anschaulich nachvollziehbar. Von den frühen, die Autonomie des Farbkörpers einfordernden Papier- und Pappe-Objekten über die oftmals direkt auf Wänden und Fassaden mit Teleskoprolle oder Spraydose ausgeführten Schraffuren und Schlaufen bis hin zu den zeitlich auf „Bulevistan“ folgenden, geradezu klassisch, aber mit performativer Note auf Leinwand angelegten Serien von One-Line-Malereien – immer bewegt sich Levi im Randbereich ihres Mediums und weitet es disziplinübergreifend aus. Auch „Bulevistan“ bildet da keine Ausnahme. Die ausladenden Linien, die die Fernwirkung bestimmen, referieren zwar einerseits auf die gestische Malerei. Zugleich gibt ihr etwas steifer Duktus Einblick in die Werkgenese und lässt erkennen, wie das grobe Malwerkzeug trotz der grossen Bildformate einengend und bremsend gewirkt hat. Andererseits verleiht die ungelenke Erscheinung den Linien etwas Zeichenhaftes und rückt das tintenblaue Ensemble in die Nähe des Schreibakts. Anders als Lettern oder Ziffern bleiben die frei erfundenen Formen aber bedeutungsresistent. Wie schon die ebenfalls schriftähnlichen Wandarbeiten der vorangehenden Werkphase und die nachfolgenden One-Line-Serien sind sie in erster Linie Ideogramme – sich selbst hervorbringende und auf sich selbst zurückweisende Zeichen für Malerei.
Astrid Näff