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Valentin Carron, Imperia II, 2011
Polystyrol, Fiberglas, Acrylharz, Acrylfarbe, Holz, Stahl, 150 x 179.5 x 39.5 cm, Plastik/Skulptur
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Sammlung Ringier, Schweiz

Der Ersteindruck, den die Arbeit „Imperia“ des Walliser Künstlers Valentin Carron (*1977) vermittelt, ist wild. Es zickt, zackt und züngelt in alle Richtungen. Ruhelos streift der Blick über Dreiecke und Trapeze. Umsonst sucht das Auge in der Vielzahl kleinteiliger Einheiten Halt. Für Dynamik sorgt auch die farbliche Gestaltung: Orange- und Beigetöne modulieren das zersplitterte Volumen; Weiss und Schwarz suggerieren – obschon nicht streng systematisch gesetzt – Licht und Schatten. Erst allmählich kristallisieren sich aus dem scheinbar abstrakten Gebilde figürliche Elemente heraus. Köpfe von Tieren – vermutlich Pferde – werden erkennbar, vielleicht ein Dreiergespann. Darüber eine Figur mit erhobenen Armen. Im Hintergrund Wolkenbänder oder Wellengang.

Bekannt für seinen appropriierenden Ansatz, hat Carron die Vorlage für „Imperia“ in einem Gebäude in Montreux entdeckt. In dessen Eingangshalle stiess er 2011 auf das gleichnamige Werk des Tessiner Plastikers Remo Rossi (1909–1982), einem von ihm schon 2009 rezipierten Vertreter der gemässigten Moderne im Stil Marino Marinis (1901–1980). Die Arbeit, die um 1962–64 zu datieren ist, fällt in Rossis abstrakteste Phase und ist einem gleichzeitig entstandenen Fassadenrelief an der Elektrozentrale von Ardon verwandt. Jenes Werk, das Rossi gemeinsam mit dem Walliser Maler Gérard de Palézieux (1919–2012) gestaltete und das nur wenige Kilometer von Carrons Wohnort Fully entfernt liegt, ist inhaltlich leichter lesbar: Es zeigt, dem Kontext entsprechend, eine die Wasserkraft symbolisierende Figur. Für „Imperia“ wählte Rossi denselben, von Palézieux eingebrachten Mosaiküberzug, zog aber eine frontale Ansicht vor und verband sie mit Elementen früherer Arbeiten. Aufschlussreich ist etwa ein Blick auf den „Pegaso“ (1958) am Palazzo del Governo in Bellinzona oder ein Vergleich mit der Bronze „Acrobata a cavallo“ (1955) im Bestand der Fondazione Remo Rossi in Locarno. Ein ebenfalls im Nachlass verbliebener Bozzetto aus blau und grau patiniertem Gips bereitet das Relief noch ohne die Pferdeköpfe vor. Ob der Grund für die Wendung ins Gegenständliche im Titel „Imperia“ liegt, sei hier nur noch beiläufig gefragt. Eine mögliche Spur führt zu einer Neptun-Gruppe im berühmten „Raum der Karten“ des Vatikan, einem Werk von Ignazio Danti (1536–1586). Sie erscheint dort auf der Karte Liguriens direkt über dem Küstenstädtchen Imperia und könnte Rossi vertraut gewesen sein.

Für Carrons Aneignung von Rossis Werk ist vieles davon egal. Ihn interessieren Gegebenheiten, die helfen, das Walliser Narrativ oder zuweilen auch jenes weiterer Teile der Schweiz zu reflektieren. Insbesondere der Zeitgeist der 1950er- und 1960er-Jahre gerät immer wieder in seinen Blick. Dabei stellt der kunsthistorische Kanon, wie ihn etwa Alberto Giacometti (1901–1966) verkörpert, die Ausnahme dar. Stattdessen wählt Carron bevorzugt Artefakte, die den Zenit der Avantgarde schon hinter sich haben oder bei denen die Grenze zur konstruierten Identität verwischt. Remo Rossis ohnehin moderate Moderne, die sich auch nur bedingt erneuert, bildet hierfür in ihrem Festhalten an etablierten Themenfeldern trotz der nationalen Ausstrahlung des Künstlers und seinem kunstpolitischen Einfluss ein gutes Beispiel. Sie steht, wie Carron später bezogen auf eine andere Werkgruppe bekennen wird, entgegen ihrer dynamischen Erscheinung für das „Gefühl einer gewissen Mattigkeit“, für die Einsicht, dass „die in den Nachkriegsjahrzehnten gemachten Verheissungen einer modernen, einer besseren Welt nicht eingelöst wurden“.

Wenn also Carron ein heute seltsam zeitgebunden wirkendes Objekt wie Rossis „Imperia“, das selbst bereits auf Vergangenes referiert, in die Gegenwart zurückholt, so erneuert er nicht dessen Symbolik. Indem er es in ursprünglicher Grösse, Textur und Optik nachbilden lässt, unterstreicht er vielmehr dessen Überlebtheit. Das Original und den damit verbundenen Mythos der Authentizität unterläuft er dabei gleich doppelt: durch die kopierende Praxis, die mit der Wahl synthetischer Materialien und der Vergabe an Dritte ein Maximum an Distanz erzeugt, sowie durch sein serielles Vorgehen. So ist das orangefarbene Exemplar zwar ein Unikat. Ein blauer Vorgänger und vier nur in Details abweichende Fassungen in Rot, Grün, Gelb und Violett machen es aber zum Teil einer sechsteiligen Reihe, die Carron 2011 respektive 2012 bei seinem langjährigen Produktionspartner Atelier Vox in Clarens anfertigen liess.

Astrid Näff

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