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Ugo Rondinone, HELL, YES!, 2001
C-Print auf Papier, 106.5 x 268.5 x 2.5 cm gesamt, Druckgrafik

ICH SCHLAFE NIE. ICH HABE NIE GESCHLAFEN. ICH HABE NIE EINEN TRAUM GEHABT. ALL DAS KÖNNTE STIMMEN. Mit dieser Chimäre eröffnet Ugo Rondinone (*1964) das letzte seiner fiktiven Tagebücher, ein unmittelbares Vorgängerwerk von „Hell, yes!“. Wie schon die Zürcher Zyklen der Jahre 1992 bis 1995, so ist auch dieser Band, der 1998 in New York entsteht, von innerer Leere durchströmt. Allerdings kreisen die Texte nicht mehr um flüchtige homoerotische Abenteuer. Der Ton ist stattdessen elegisch geworden. Die mit Worten geweckten Bilder sind von urbaner Einsamkeit, Ennui und vagen Sehnsüchten erfüllt. Zudem fliesst die Geschichte einer Frau mit ein, die ein Jahr in kompletter Abgeschiedenheit unter der Erde verbringt. Licht, Dunkelheit oder das Träumen von Luft geraten ihr über Wochen zu Obsessionen. Währenddessen konzentriert sich der Tagebuch-schreiber auf Krabbelgetier. Oder er malt sich kleine Single-Organismen auf Bäumen aus, die nur darauf warten, sich auf ihre Seelenverwandten herabfallen zu lassen. Illustriert wird das Konvolut von holzschnittartigen Tuschezeichnungen von Wäldern.

Ebenfalls 1998 entsteht die multimediale Installation „In the Sweet Years Remaining“, ein weiteres Vorgängerwerk von „Hell, yes!“. In ihrer umfangreichsten Fassung vereint sie auf einer grob gezimmerten, weiss gestrichenen Bretterwand 70 Schwarzweiss-Fotografien einer jungen Frau, die in städtischer Kleidung ziellos in einem verschneiten, nebligen Wald unterwegs ist. Hinter der Wand erzeugen gelbe und pinkfarbene Scheinwerfer eine magische Stimmung. Aus Lautsprechern klingt ein kurzer Passus aus dem Song „No More Affairs“ der britischen Chamber-Rock-Band Tindersticks. Rondinone ist angekommen, auch privat.

Ist die weisse Bretterwand ein altbekanntes Requisit, das schon 1990/91 – etwa im Zürcher Offspace Walcheturm bei der Ausstellung „I’m a Tree“ – als Backdrop für grosse Tuschelandschaften diente, so weist die Fotostrecke nach vorn. 1999 lässt Rondinone eine Vielzahl gelber Abzüge anfertigen, die er im darauffolgenden Frühjahr zu einer neunteiligen, diverse Formate umfassenden Hängung in seiner Londoner Galerie Sadie Coles HQ gruppiert. Die neun Blöcke zu jeweils 15 Aufnahmen betitelt er mit ausgeschriebenen Datumsangaben, wie er dies früher schon öfter getan hat, etwa bei den eben erwähnten Tuschen. Die Ausstellung als Ganzes nennt er „Hell, yes!“. Parallel beginnt er an einem Künstlerbuch zu arbeiten, das ebenfalls den Titel „Hell, yes!“ erhält und im Jahr 2000 beim kleinen Zürcher Kunstverlag Ink Tree Editions erscheint. Auf 180 Seiten begleiten die Fotos der Frau im Wald nun die Texte des Tagebuchs von 1998, ergänzt um jene der früheren Jahre. Sorgfältig auf die jeweiligen psychischen Zustände abgestimmt, folgen sie einem ungewöhnlichen Farbkonzept aus mehreren Sektionen verschiedener Zweifarbendrucke. Zudem erscheint eine Spezialausgabe (Auflage 10 Ex.), die jeweils 15 Unikatabzüge in ebendiesen Farbpaarungen enthält: Schwarz auf Rot, Violett auf Gelb, Grau auf Weiss, Cyan auf Weiss etc.

Die Aarauer Prints, die einzeln gerahmt sind wie bei Sadie Coles, nun aber alle das gleiche Format aufweisen, entstammen schliesslich einer von Ink Tree 2001 separat herausgegebenen Edition (Auflage 9 Ex. plus 3 AP). Auch hierbei handelt es sich um eine Unikatreihe in jeweils einer Farbpaarung. Die Aarauer Gruppe ist also die einzige in Schwarz-Gelb.

Die Reihe der untereinander inhaltlich, formal oder über den Titel verbundenen Arbeiten liesse sich fast nach Belieben erweitern. Etwa um die Lichtinstallation „Hell, yes!“, eine Leuchtschrift in Regenbogenfarben, die Rondinone wiederholt an Fassaden oder auf Hausdächern anbringt. Oder um seinen Beitrag zur Istanbul-Biennale von 1999: ein Raum mit künstlichen Tannen, von denen aus Lautsprechern ein Loop über Trennungsschmerz und Schlaflosigkeit ertönt. Das ziellos ins Leere Laufende, Verschlaufte und Repetitive, aber auch das Melancholische, Artifizielle und atmosphärisch Entleerte erweist sich somit als Rondinones treibendes Schaffensprinzip. Wie die Frau im Wald, die ganz in ihrer eigenen Denkwelt versunken ist und mit niemandem interagiert, werden auch wir vor seinen Werken auf uns selbst zurückgeworfen. Unablässig prallen wir auf Varianten des Immergleichen, denken vielleicht kurz über die Unterschiede nach und stolpern weiter. Ein stetes Getriebensein, ein endloser Wachtraum. I NEVER SLEEP. I’VE NEVER SLEPT AT ALL. I’VE NEVER HAD A DREAM. ALL OF THAT COULD BE TRUE.

Astrid Näff, 2022

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