Diverse Materialien, 60 x 50 x 8 cm
Wie eine Insektensammlung aus einem naturhistorischen Museum muten die „Etterlinge“ im weissen Schaukasten auf den ersten Blick an. Anders als in entomologischen Sammlungen sind die Tierchen jedoch nicht mit einer Nadel feinsäuberlich nebeneinander gepinnt und mit einem Etikett versehen. Sie schauen vielmehr in alle Richtungen, so als würden sie über die Bildfläche tanzen, als seien sie nur vorübergehend dort gelandet. Es ist ein illusionistisches Spiel, das die Künstlerin Olivia Etter (*1956, Zürich) mit uns Betrachterinnen und Betrachtern treibt. Weder Schmetterlinge – wie es der selbstironische Titel vermuten liesse – noch andere Insektenarten dienen der Künstlerin als Material. Auf den zweiten Blick entpuppen sich die Kleinkunstwerke als Assemblagen von getrockneten Blättern, Blüten, Schoten, Halmen oder Gräsern. Jedes der fragilen Fantasie-Insekten ist ein Unikat, zusammengesetzt aus gefundenen Naturmaterialien, sorgfältig auf dem Hintergrund fixiert.
Während getrocknete Blätter des Eukalyptus einem anderen, in der Sammlung des Aargauer Kunsthaus vertretenen Künstler, Markus Raetz, ab den 1980er Jahren als natürlicher Ersatz für die geschwungenen Pinselstriche seiner Gesichter dienen, adaptiert Olivia Etter für ihre seit 1992 entstandene Werkserie dagegen ein aus der Natur vertrautes Phänomen. Denken wir etwa an die „Wandelnden Blätter“, als Pflanzenblatt getarnte Insekten, die sich dem Prinzip der Mimesis bedienen, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Ihre Täuschung haben sie so perfektioniert, dass sie gar wie Blätter leicht hin und her schaukeln wenn sie angepustet werden.
Bereits zu Beginn ihres von Unterbrüchen geprägten künstlerischen Weges erprobt Olivia Etter Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Verwandlung. Spürbar wird dieses Interesse in Rauminstallationen und Katalogproduktionen, beispielsweise wenn sie sich von Personen aus ihrem Umfeld porträtieren oder darstellen lässt, später auch in subversiven Rollenspielen – unter anderem mit der Zürcher Schuhdesignerin und Künstlerin Stefi Talman. Zu diesen fröhlichen Maskeraden gehört auch die „Olivia Kasperlifigur“ (1993), welche sich ebenfalls in der Sammlung des Aargauer Kunsthaus befindet. Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, das wiederkehrende Motiv des Insekts in Etter’s Werk mit der Symbolik der Metamorphose, der Verkleidung und Verwandlung, in Verbindung zu bringen. Insbesondere in Werken des Surrealismus von Salvador Dalí und André Masson bis Leonora Carrington oder Meret Oppenheim tauchen Insekten verschiedentlich auf. Der Gottesanbeterin widmet die surrealistische Zeitschrift „Minotaure“ 1934 gar einen Artikel. Auch Olivia Etter schafft dem für seine anthropomorphen Züge bekannten Insekt, dessen Weibchen das Männchen nach der Paarung verspeist, 1994 ein imposantes Denkmal in Aluminium („Gottesanbeterin“). Ausgestellt zusammen mit weiteren Arbeiten wie den „Himmelsdöschen“ (1994) und den „Insektenstöckelschuhen“ (1994) aus dem Depositum der Sammlung Andreas Züst des Aargauer Kunsthauses wird 2022 in der Ausstellung „Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau…“ die innere Verwandtschaft von Etters Arbeiten sichtbar. Jenseits Beschränkung auf Stilrichtungen, Techniken oder Materialien verbindet sie ein eigenwilliger Sinn für Poesie und Humor.
Sarah Mühlebach, 2023