Wolle, 44 x 34 cm
In der Sammlung des Aargauer Kunsthauses war Alice Bailly (1872–1938) bis anhin mit zwei Ölgemälden, einer Zeichnung und zwei Holzschnitten vertreten. Mit dem Ankauf des Wollbildes „Noël des gosses ou Joie autour de l’arbre“, das erst 1996 aus dem Nachlass in Genfer Privatbesitz gelangte, konnte die Werkgruppe gezielt um eine Arbeit erweitert werden, deren materielle Umsetzung für das Schaffen der Künstlerin geradezu Signaturcharakter besitzt.
Erste Bilder, bei denen sie zu Nadel und Garnen anstatt zu Pinsel und Ölfarben griff, schuf Bailly 1916 in ihrer Heimatstadt Genf, wo sie, vom Krieg überrascht, zwei Jahre zuvor nach einem Jahrzehnt reger Teilnahme an der Pariser Avantgardeszene wieder Wohnsitz genommen hatte. 1920 kehrte sie zurück nach Paris, wo sie die Technik nur noch sporadisch nutzte. Rund fünfzig sogenannte ‚tableaux-laine‘ umfasste ihr Werkverzeichnis zu diesem Zeitpunkt.
„Noël des gosses ou Joie autour de l’arbre“ entstand um 1917 bis 1918 auf dem Höhepunkt der Produktion und fällt, wie einige weitere Wollbilder jener Zeit, durch sein ovales, von der violetten Bordüre noch betontes Bildfeld auf. Das Format hat seinen Ursprung in der Bildnistradition, doch zog Bailly es nicht nur für Porträts heran, wo es 1916 als integrierter Bildrahmen schon in Collageform vorkommt. Vielmehr wandte sie es, zweifellos angeregt durch Bildlösungen der Kubisten, auf ihre gesamte Motivwelt an, mit einer Präferenz für Szenen, die auch inhaltlich und formal, wie zum Beispiel kreis- oder ellipsenförmig aufeinander bezogene Figuren, mit dem Rund korrespondieren. Wie sein Doppeltitel besagt, zeigt das Bild eine Gruppe von Kindern, die an Heiligabend freudig um einen Weihnachtsbaum tanzen. Zwei von ihnen sind dank ihrer bunten Kleidung auf Anhieb zu erkennen; die übrigen haben sich an den Händen gefasst und springen um die anderen herum, wobei sie sich in ihren engelshellen Gewändern nur wenig vom Umgebungsraum abheben.
Damit treten sowohl die Vorzüge als auch die Grenzen der Technik zutage: Binnenzeichnungen sind nur bedingt möglich und auch die Übergänge zwischen Figur und Grund lassen sich nur ansatzweise modellieren. Der Bildraum bleibt dadurch relativ flach, während zugleich die längliche Struktur der Schlingstiche – malerisch ausgedrückt: die Strichführung oder Schraffierung – in den Vordergrund tritt. Mit dieser bewussten Abkehr von der Lesbarkeit des Motivs zugunsten der modernistischen Bejahung der Zweidimensionalität der Mittel stellte das Wollbild für Bailly eine absolut gleichberechtigte Alternative zur Ölmalerei dar. So überrascht nicht, dass mit „Joie autour de l’arbre“ eine um 1913 bis 1914 gemalte grossformatige Vorgängerfassung auf Leinwand existiert, und dass die Künstlerin stets streng darauf bedacht war, ihre Öl- und Wollbilder zusammen zu präsentieren. Wie Paul-André Jaccard im Katalog der Lausanner Retrospektive von 2005 umsichtig ausführt, war die Kritik indes noch nicht so weit, zwischen weiblich-dekorativ konnotierter Stickerei und den höchst ernsthaften malerischen Ambitionen der Künstlerin zu unterscheiden. Heute dagegen zählt Alice Bailly mit ihren Wollbildern wie Sophie Taeuber oder Sonja Delaunay zu den Pionierinnen textiler Kunst.
Astrid Näff