Acryl auf Kunststoff, 91 x 91 x 10.5 cm
„Nur der Schein trügt nicht“. Diese Überzeugung von Joseph Albers (1888–1976), der sich in den 1960er-Jahren in seinen Form- und Farbstudien intensiv mit der Relativität der Wahrnehmung auseinandersetzt, könnte man als Leitmotiv von Hansjörg Glattfelders (*1939) Schaffen bezeichnen. Der Zürcher Künstler, der nach längeren Aufenthalten in Rom, Florenz, Mailand und Paris heute in Basel wohnt, entwickelt seine künstlerische Sprache im Umfeld der „konkreten Kunst“ und zählt heute zu den wichtigsten Kunstschaffenden in Europa, die das Erbe dieser gegenstandslosen Kunstrichtung mit immer neuen Impulsen lebendig halten. Die Forderung der „konkreten Kunst“ nach Klarheit und Eindeutigkeit des Bildes etwa hebelt Glattfelder immer wieder lustvoll aus, indem er mit rationalen und präzisen Konstruktionen ein sublimes Spiel mit unserer Wahrnehmung treibt.
Das vorliegende Werk von 1970 ist Teil einer Edition und bildet den ersten Höhepunkt von Glattfelders Vorhaben, die Regeln der visuellen Wahrnehmung zu ergründen. Die sogenannten „Pyramidenreliefs“, von denen er rund 700 anfertigt, bilden die konsequente Weiterentwicklung seiner Papierarbeiten der 1960er-Jahre, in denen er das Wirkungspotential geometrischer Grundformen – etwa die Möglichkeit, mittels gemalter Elemente Bewegung zu suggerieren,– erstmals systematisch untersucht. In den „Pyramidenreliefs“ verbindet er diese damals entdeckten Tendenzen der aufkommenden Op-Art (optische Täuschungen) mit den Prinzipien der „konkreten Kunst“ (rational erklärbare Formensprache) und formuliert sie plastisch aus. Das Thema der Bewegung und des zeitlichen Ablaufs erhält eine neue Dimension, denn die physische Aktivität des Betrachters wird zum wichtigen Bestandteil der „Pyramidenreliefs“: nur in der räumlichen Bewegung, im aktiven Mitsehen und Miterleben offenbart sich das ästhetische Potential der Arbeit. Deren Wirkung und Farbdynamik ändert sich je nach Standort wesentlich. Von rechts aus betrachtet liefert das Pyramidenrelief von 1970 beispielsweise eine tonale Abstufung von Blau zu Grün zu Gelb, von links her gesehen dominieren Farbnuancen in Rot. Aus einem tiefen Betrachterstandpunkt verlieren die Pyramiden ihre Plastizität und erscheinen als flächige Farbakkorde. Eine grosse Varietät an Wahrnehmungsaspekten ist allen „Pyramidenreliefs“ eigen, worin sich Glattfelders Schaffen von demjenigen der Hardliner der „konkreten Kunst“ unterscheidet. Denn durch sein bewusstes Erzeugen von Illusion spielt er mit dem „konkret“ Sichtbaren und gibt nicht der Ein- sondern der Vieldeutigkeit Raum.
Mit den „Pyramidenreliefs“ gelingt Glattfelder ein künstlerischer Wurf, der dazu beiträgt, dass er Anschluss an die internationale Kunstszene findet. 1971 nimmt er an der Ausstellung „The Swiss Avantgarde in New York“ und 1986 an der Biennale von Venedig teil. Die in den „Pyramidenreliefs“ angelegten Parameter zu Wahrnehmung und Raum führt Glattfelder in den 1980er-Jahren mit der bis heute aktuellen Serie der „nicht-euklidischen Metaphern“ noch einen Schritt weiter. In diesen Sinnbildern des nichteuklidischen Raums ermöglicht er eine irritierende, da simultane Wahrnehmung von Zwei- und Dreidimensionalität. „Kann ein krummes Ding gleichzeitig gerade sein?“, so der hierzu oft zitierte Satz des Künstlers, mit dem er auf seinen gezielten Einsatz von formalen Widersprüchlichkeiten Bezug nimmt. Gerade im Einbinden eben dieser, also nicht in der konkreten, sondern in der metaphorischen Konstruktion sieht er das noch wenig ausgeschöpfte Potenzial für die „konkrete Kunst“, über deren Voraussetzungen er sich mit und durch seine Kunst seit nunmehr 50 Jahren auseinandersetzt.
Nicole Rampa