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Hans Josephsohn, Ohne Titel, 1995 / 1996
Messing, 155 x 96 x 63 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung
Copyright: Josephsohn Estate und Kesselhaus Josephsohn, St. Gallen
Fotocredit: Jörg Müller

Wie kein anderer Plastiker seiner Generation bekennt sich Hans Josephsohn (1920–2012) zeitlebens konsequent zur Figur. Unbeirrt und stilistisch enorm kohärent verfolgt der aus Ostpreussen stammende, 1938 unter glückhaften Umständen in die Schweiz gelangte und in Zürich bei Otto Müller (1905–1993) ausgebildete Künstler seinen Weg dabei mehrheitlich konträr zum Zeitgeist. Zwar kann er regelmässig ausstellen und sein Schaffen auch einzeln in grösseren Häusern zeigen wie 1964 im Zürcher Helmhaus, 1965 in der Kunsthalle Basel oder 1981 im Aargauer Kunsthaus. Die gebotene breite Anerkennung wird ihm aber trotzdem erst spät zuteil: Begünstigt durch das wiedererwachte Interesse am Figürlichen seit den 1980er-Jahren, beginnt man sein Werk ab 2000 vermehrt auch international zu zeigen; 2003 erhält er den Kunstpreis der Stadt Zürich, und 2004 wird das Kesselhaus Josephsohn im Sitterwerk bei St. Gallen eröffnet, das seither zusammen mit dem Museum La Congiunta, einem 1992 von Peter Märkli in Giornico errichteten Betonbau von sakralem Minimalismus, als zweite ständige Werkpräsentation den öffentlichen Zugang zu diesem aussergewöhnlichen Œuvre sichert.

Die heute drittgrösste Werkgruppe des Künstlers ist jene des Aargauer Kunsthauses. Ihr Kernbestand geht auf Heiny Widmer zurück, der 1970 die Leitung des Hauses übernimmt und gleich mehrere der bedeutenden Bronzereliefs aus den 1960er- und 70er-Jahren erwirbt: eine Stehende, zwei Sitzende, drei Köpfe und stellvertretend für Josephsohns Leitthema der 1950er-Jahre die überlebensgrosse Standfigur eines Arbeiters. Bis 1978, dem Hauptzugangsjahr, kommen so 14 Bronzen zusammen, die den Werdegang des Künstlers seit seinen Anfängen, seine Konzentration auf die menschliche Figur und ihre Grundposen Stehen, Sitzen, Liegen gültig bezeugen.

Seit 2005, anfangs als Leihgabe des Künstlers, ergänzt ferner eine monumentale Halbfigur diesen Werkquerschnitt. 1995–96 entstanden und im Grunde eher ein Kopf denn ein Torso, gehört sie zur Gruppe der Spätwerke, mit denen sich Josephsohn Ende der 1980er-Jahre definitiv von der integralen Darstellung des Menschen verabschiedet und sich – teils nach Modell – der bislang nur sporadisch thematisierten oberen Körperhälfte zuwendet. Die jahrzehntelange Suche des Künstlers nach dem Wesen körperlicher Präsenz erlangt damit eine nochmals intensivere Stufe. In einem langsamen, kaum je abgeschlossenen Modellierprozess tritt die Form in einem Wechselspiel ungezählter Spachtel- und Daumenbewegungen, wenn nötig auch Messerhiebe, aus der Masse der Materie hervor. Vieles bleibt dabei Andeutung, und mitunter, so auch hier, unterscheiden sich Form und Nicht-Form nur durch wenige Striche. Dem Betrachter fällt es zu, tastenden Auges die diskreten Grate, Wölbungen und Vertiefungen, über die sich die Physiologie mitteilt, auch für sich zu entdecken. Beim Umschreiten der Plastik, die in Entsprechung zur Ateliersituation aufgesockelt ist, erschliesst sich ihm so eine Ahnung der Seherfahrung, durch die Josephsohn – ähnlich wie vor ihm Alberto Giacometti (1901–1966) oder zeitgleich der etwas jüngere William Tucker (*1935) – zu immer wieder neuen Versuchen des Erfassens und Verdichtens angetrieben wird. Die rohe Wirkung und schiere Wucht des Kopfes vermitteln eine gute Vorstellung vom Ringen, das hinter jeder Formwerdung steckt: Seine Torsi, so Josephsohn, würden ihm immer gross geraten, auch wenn er bescheiden beginne. Dennoch verbindet sich der Eindruck archaischer Schwere auch trefflich mit dem ständig Veränderlichen, Flüchtigen, der blossen Idee eines Gesichts. Zudem wirken Asymmetrien und manchmal auch äusserst prekäre Schieflagen dem Statischen und Abgeschlossenen entgegen. Jede einzelne der vielleicht drei Dutzend Halbfiguren, die Josephsohn in hohem Alter noch schafft, kündet so auf unvergleichliche Weise von dem, was seit jeher im Zentrum seiner Suche gestanden hat: vom nicht weiter reduziblen Vordringen zum figürlichen Kern und dem steten Sich-aufrecht-Behaupten des Menschen gegen seine erdschwere Existenz.

Astrid Näff, 2018

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