Graphit auf Papier, 150 x 240 cm
Marianne Kuhn (*1949) widmet ihr künstlerisches Schaffen konsequent dem Medium der Zeichnung. Seit ihrer Ausbildung an der Basler Schule für Gestaltung 1969 bis 1975 erprobt die Aargauer Künstlerin mit dem Werkstoff Grafit immer wieder neue Ausdrucksformen, testet dessen vielfältigen Eigenschaften und weitet damit das mediale Feld der Zeichnung. Kuhn gehört mit Miriam Cahn, Klaudia Schifferle und Silvia Bächli einer Generation von Kunstschaffenden an, die in den 1980er-Jahren die Zeichnung ganz selbstverständlich als autonomes Medium beansprucht und fernab von seiner klassischen Abbildfunktion befragt. Im Gegensatz zu ihren Zeitgenossinnen bleibt Kuhn der langsamen, handschriftlichen Arbeit des Zeichnens sowie der Gestaltung ausschliesslich in Schwarz und Weiss treu.
Verbindendes Moment ihrer Arbeiten ist seit 1983 das grosse Format, das nach zahlreichen Reisen mit der vermehrten Arbeit im Atelier einhergeht. Thematisch bleibt das Reisen jedoch weiterhin bestimmend – sowohl auf motivischer Ebene als auch im übertragenen Sinn bei der Erforschung ihres Mediums. Entwirft Kuhn in ihren frühen Werken vornehmlich utopische, oft unterirdische Architekturen, vollzieht sie ab 1990 mit kartografisch anmutenden Landschaften einen Perspektivwechsel. Mitte der 1990er-Jahre wiederum erweitert sie ihre zeichnerische Praxis ins Dreidimensionale; der Rohstoff Grafit nimmt nun als Block und Relief Gestalt an.
In „Ohne Titel“ klingen weder architektonische noch landschaftliche Referenzen an, stattdessen sehen wir uns einem körperlosen Phänomen gegenüber, das Erinnerungen an Wolkengebilde oder Nebelschwaden weckt. Von den dunklen Rändern her lichtet sich die fragile Textur zur Mitte hin allmählich, ohne jedoch einen Ein- oder Ausblick zu eröffnen.
Das Auge findet in diesem zeichnerischen Allover aus Verdichtung und Verdünnung, welches das Papier bis an die unregelmässigen, von Hand gezogenen Ränder besetzt, keinen Halt und tastet sich suchend den Grafitspuren entlang. Folgt man der Aufforderung einer näheren Betrachtung, die vom Werk ausgeht, wird man des dialektischen Verhältnisses von Nah- und Fernsicht gewahr: In geringem Betrachtungsabstand gewinnt die wogende Formation an Struktur und erinnert nun eher an eine mit Fell überzogene Haut. In unterschiedlicher Länge und Intensität formieren sich Abertausende Striche mancherorts schraffierend zu dunklen Wirbeln und Wellen, um an anderer Stelle wieder dem Weiss des Papiers Raum zu geben.
Nähert man sich dem Bild jenseits von inhaltlichen Referenzen, so wird es zum Ausdrucksträger seines Entstehungsprozesses. Während jede einzelne Grafitspur von der kontinuierlich wiederholten Handgeste der Künstlerin zeugt, lässt sich die „Leerstelle“ im Bildzentrum als Ort ihres Körpers lesen. Kuhns grossformatige Zeichnungen entstehen in einem langwierigen Schaffensprozess auf dem Fussboden und verlangen der Künstlerin intensiven physischen Einsatz ab. Von den Rändern her oder mitten auf dem Blatt kniend und kauernd, arbeitet sie sich durch kontinuierliche Überlagerung von Grafitspuren Schicht für Schicht zu einer Darstellung vor, die weniger abbildet, als vielmehr Ausdruck der künstlerischen Selbstverortung ist. Gerade in dieser paradoxen Simultanität von Aufdecken und Verschleiern, haptischer Körperlichkeit und ephemerer Auflösung, die diese Verfahrensweise mit sich bringt, liegt die suggestive Wirkung des Werks begründet.
Raphaela Reinmann