Schwefel, Asche, Zement, Acryl auf Holz / Soufre, cendres, ciment, acrylique sur bois, Teil I: Schwefelklotz 40 x 174 x 110 cm
Zwei gleichförmige Elemente bilden die Skulptur „Ohne Titel (IL 587)“ von Ingeborg Lüscher (*1936). Mit Schwefel, Asche, Zement und Acryl bearbeitete die Künstlerin die Oberflächen so, dass der untere Quader ein pudrig-lichtes Gelb und der obere ein glänzend-sattes Schwarz aufweisen. Beide Partien reagieren auf kleinste Lichtveränderungen. Die Arbeit ist Teil einer Gruppe von sieben Skulpturen, die sich jeweils – mit einer Ausnahme – aus einem hellen und einem dunklen Block zusammensetzen und sich an menschlichen Proportionen orientieren. Trotz ihrer streng geometrischen Form haben sie die Präsenz von Körpern, die sich begegnen, sich berühren, ihr Gegenüber tragen oder von ihm getragen werden und zugleich ihre Eigenständigkeit bewahren. Die «Paare», wie die Künstlerin die unbetitelten Werke nennt, zeigen Wechselformen der Zweisamkeit.
Ingeborg Lüscher wächst während des Zweiten Weltkriegs in Sachsen und später in Berlin auf, wo sie eine Karriere als Schauspielerin beginnt. Den Wechsel zur bildenden Kunst vollzieht sie nach Dreharbeiten in Prag, wo sie den Auftakt des Prager Frühlings miterlebt. Die politische Aufbruchsstimmung bewegt sie zu einem Neuanfang: 1967 zieht sie nach Tegna ins Tessin und nimmt dort autodidaktisch ihre künstlerische Tätigkeit auf. Es entsteht ein vielfältiges Œuvre, für das Lüscher Materialien wie Stein, Pulver, Pflanzen, Textilien und Kunststoff verwendet. 1984 entdeckt sie zudem Schwefel als künstlerisches Material: «Der gelbe Schwefel fiel mir in einem grossen Glas in der Drogerie von Locarno auf. Ich kaufte alles, was drin war, schüttete es im Atelier in eine Wanne und labte mich daran.» Mit all seinen Abstufungen wird Gelb somit zur Schlüsselfarbe, insbesondere in Lüschers Skulptur, Malerei und Fotografie. Diese formale Hinwendung erfolgte – noch vor der Entdeckung des Schwefelpulvers – über eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Medium Licht. In mehreren Werkgruppen wie den grossen Skulpturen, zu denen „Ohne Titel (IL 587)“ gehört, kommt Gelb fast ausschliesslich in Kombination mit Schwarz vor. Das leitmotivische Hell-Dunkel und somit die Farbsymbolik folgen allerdings nie bloss der gängigen Zuordnung. So erinnert das Schwefelgelb nicht nur an Licht, Feuer und Wärme, sondern steht auch für Negatives wie Heuchelei, Neid oder Krankheit. Das Dunkel wiederum wird von Lüscher mit Tod, Leere und Trauer verbunden, aber auch mit Liebe und Eros, Wiedergeburt und Auferstehung, Klugheit und Weisheit. Ein dualistisches Prinzip von Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, ist bei Lüscher kaum anzutreffen. Die scheinbaren Gegensätze heben sich meist in einem facettenreichen, selten eindeutigen Ganzen auf.
„Ohne Titel (IL 587)“ war in der Ausstellung Schweizer Skulptur seit 1945 als Leihgabe zu sehen und fand nun dank der grosszügigen Schenkung der Künstlerin Eingang in die Sammlung. Sie wird die bereits vorhandenen Werke Lüschers – eine Videoarbeit und eine 5-teilige Fotoserie – qualitätsvoll ergänzen.
Anouchka Panchard, 2022