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Martin Disler, Ohne Titel (PISA), 1976
Kugelschreiber auf Papier, 33 x 47.5 cm
Aargauer Kunsthaus, Aarau / Schenkung aus dem Nachlass Martin Disler
Copyright
Fotocredit: Ullmann Photography (Timo Ullmann)

«Ich male nicht, um Bilder zu machen, sondern um zu überleben.» Für Martin Disler (1949–1996), der als Autodidakt zur Kunst fand, war das Erschaffen von Werken eine existentielle Notwendigkeit. In Zeichnung, Malerei, Plastik und als Schriftsteller suchte er nach Entgrenzung, nach einem impulsiven und authentischen Ausdruck. Seine Arbeitsweise beschrieb er mit Begriffen wie „sich entsichern“, „halluzinieren“ oder „schwitzen“ und seine Bildsprache nannte er „falsch“, da sie bewusst traditionelle Zeichenkonventionen unterlief, um eine unverfälschte Ausdrucksweise zu erreichen.

Zu Beginn seiner Laufbahn in den 1970er Jahren wurde Disler als Zeichner wahrgenommen. In den 1980er Jahren avancierte er zu einer zentralen Figur der neoexpressiven Malerei – der sogenannten Neuen Wilden – und wurde einer ihrer bedeutendsten Vertreter in der Schweiz. Ihre figurative, oft raue Bildsprache stellte einen Gegenentwurf zur analytischen Konzeptkunst dar.

Durch eine grosszügige Schenkung aus dem Nachlass des Künstlers konnte 2024 die hochkarätige Sammlung auf Papier des Aargauer Kunsthauses um 35 grafische Blätter erweitert werden. Die Einzelwerke lassen sich in lose Gruppen einordnen: Die filigranen, humorvoll-poetischen Kugelschreiber-Zeichnungen von 1976 sowie die lichten Acrylarbeiten von 1979 zeigen, dass Disler sein subjektiv geprägtes Bildvokabular bereits früh entwickelte. Damit nahm er in der Schweizer Kunst eine Pionierrolle ein. Mit sicherem Strich erzeugte er schemenhafte Formen, die mal an fragmentierte Körper, mal an Bäume oder Schlangen erinnern. Das Spiel mit Leerflächen und Verdichtungen sowie die Transparenz der Acrylfarbe entfalten eine ebenso fragile wie eindringliche Wirkung.
Obwohl Dislers Werke oft zwischen Figuration und Abstraktion oszillieren, bleibt in ihnen der Körper ein zentrales Thema und Motiv. Besonders in den 1980er Jahren gewann der Körper an Bedeutung, was sich in Dislers in Schwarz gehaltenen Aquarellen dieser Zeit schön zeigt. Sie stehen in engem Zusammenhang mit seinem malerischen Schaffen, das sich durch eine ungestüme, fast rauschhafte Arbeitsweise auszeichnet. In den Aquarellen von 1982 verdichten sich aus den heftigen, gestischen Zeichnungen grotteske, verzerrte Fratzen. Sie tauchen aus dem Dunkel auf und verschmelzen mit ihrer Umgebung. Ihre Unschärfe verstärkt den Eindruck von Bewegung und Vergänglichkeit. Die Aquarelle vermitteln ein Gefühl von Unmittelbarkeit, als seien sie in einem Moment intuitiver Ekstase entstanden. Wie es für Dislers Schaffen typisch ist, kreisen die Blätter um existenzielle Themen wie Liebe, Tod, Geschlechterverhältnisse und Gewalt. Sie zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit menschlichem Leiden und kollektiven Traumata, wirken wie allgemeine Sinnbilder des Entsetzens und erinnern an archaische, traumartige Bilder, in denen Angst und Begehren, Präsenz und Verschwinden ineinandergreifen. Dislers expressive Bildsprache bleibt tastend und ambivalent, die dargestellten Körper in ständiger Metamorphose begriffen.

Das Aargauer Kunsthaus prägte Dislers Rezeption in der Schweiz wesentlich mit. Seit den 1980er Jahren wurden seine Werke im Aargauer Kunsthaus wiederholt gezeigt, 2006 widmete ihm das Museum eine umfassende Einzelausstellung. Den Grundstein für eine kontinuierliche Erweiterung des Disler-Bestands in der Sammlung legte der damalige Direktor Heiny Widmer mit einem ersten Ankauf 1979 – noch bevor Disler Anfang der 1980er Jahren international bekannt wurde. Heute verfügt das Aargauer Kunsthaus über eine beachtliche Sammlung seiner Werke, insbesondere Zeichnungen und Arbeiten auf Papier, die seine gestische Expressivität und die existentielle Dimension seiner Themen eindrucksvoll dokumentieren.

Nicole Rampa, 2025

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