Öl auf Leinwand, 41 x 66 cm
Ein recht wildes Liniengeflecht nimmt das ganze Bildgeviert ein, setzt dieses in Bewegung, verleiht ihm Rhythmus und Dynamik. Die Pinselstriche scheinen sich wie von selbst über die Leiwand auszubreiten, einer Handschrift vergleichbar, und zugleich fügen sie sich zu konkreten Formen zusammen. Diese gemahnen an menschliche Figuren und auch an Tiere. Die abstrakten Linien, insbesondere die Kreisformen, verwandeln sich in Gestirne, in Köpfe, in Brüste, in Früchte. Ungeachtet dieser Vielgestaltigkeit gehört alles zusammen, stellt ein grosses, in sich stimmiges Ganzes dar.
Im Frühjahr 1947, im Entstehungsjahr des Gemäldes «Private Totem», hält sich Sonja Sekula (1918–1963) für ein paar Wochen in Mexiko auf und wohnt wiederholt indianischen Ritualen bei. Ihr Interesse gilt dabei einer spirituellen Praxis, welche dem Werden und Vergehen und den Welten dazwischen besondere Bedeutung bemisst. Sie äussert sich beispielsweise in vergänglichen Sandmalereien oder auch im Totem-Kult: Tiere, Pflanzen oder andere Naturerscheinungen dienen als Sinnbilder für menschliches Verhalten und werden in objekthafter Form oder auch nur als Idee verehrt.
Die Mexiko-Erfahrungen fliessen in Sekulas Werk ein. Indem sie den Totem-Charakter ihres Bildes im Titel als «privat» kennzeichnet, spricht die Künstlerin nicht zuletzt einen für sie zeitlebens bedeutsamen Sachverhalt an, nämlich die scheinbar unauflösliche Spannung zwischen ihrem persönlichen Befinden und den Erwartungen und Normen ihrer Umgebung, seien sie künstlerischer oder auch gesellschaftlicher Natur.
Im Katalog der 2018 im Aargauer Kunsthaus gezeigten Ausstellung «Surrealismus Schweiz» habe ich es so formuliert: «Eine Schweizer Künstlerin war zur rechten Zeit am rechten Ort und fällt doch durch fast alle Maschen – sie war eben auch überall dazwischen: Sonja Sekula.» Im Alter von 18 Jahren emigrierte sie 1936 mit ihren Eltern in die USA. In New York nimmt sie an der Art Students League ein Kunststudium auf, lernt die Surrealisten in deren Exil kennen, verkehrt u. a. mit André Breton, Kurt Seligmann, Marcel Duchamp, Isabelle Waldberg und Frida Kahlo. Sie wird von diesen ebenso geschätzt wie von den abstrakten Malern der School of New York, von Jackson Pollok bis Barnett Newman. Sekula erfährt frühe Förderung durch Peggy Guggenheim und Betty Parsons. In den Zirkeln von John Cage und Merce Cunningham scheint sie sich wegen ihrem Interesse an Intermedialität und nicht zuletzt wohl auch wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung besonders wohlzufühlen. Auf neunzehn trotz psychischer Krankheit mehrheitlich glückliche Jahre in New York folgt 1955 die aus medizinischen und finanziellen Gründen erzwungene Rückkehr in die Schweiz, wo sie sich fremd und unwohl fühlt, getrennt von Möglichkeiten, mit ihrer Kunst nach aussen zu treten. Sie verliert die Kontakte in New York und findet kaum neue in der Schweiz. 1963, im Alter von 45 Jahren, wählt sie den Freitod.
Sekulas künstlerisches Schaffen bewegt sich genau dort, wo der europäische Surrealismus und der amerikanische abstrakte Expressionismus einander überlappen. Ihr Strich ist vom surrealistischen Automatismus geleitet, entfernt sich aber nur selten ganz davon, figurative Formen zu umschreiben. Ihr Werk hält sich fast immer in einem Zwischenreich auf. «Ich arbeite bewusst in verschiedenen Richtungen», so Sekulas Selbsteinschätzung 1957, «… meine Richtung ist das Einfach-Vielfache». Genau aus diesem Grunde war eine nachhaltige Würdigung ihres Œuvres lange Zeit erschwert, nämlich weil dessen Qualitäten in der Synthese verschiedener avantgardistischer Haltungen liegen. Inzwischen haben Ausstellungen in Winterthur (1996), Aarau (2008) und Luzern (2016) das Werk von Sonja Sekula für die weitere Rezeption neu erschlossen.
Peter Fischer, 2024