Installation, Wandlöcher (variabel), Masse variabel
In einem ungewöhnlichen Buch über die Kunst der Blumen, ihrer Verwurzelung zu entkommen, hält der belgische Symbolist Maurice Maeterlinck 1907 fest: „Jede Blume hat ihre Idee, ihr System, ihre erworbene Erfahrung, die sie zu nutzen weiss. Sieht man sich ihre kleinen Erfindungen, ihre verschiedenen Methoden aus der Nähe an, so glaubt man sich in einer Ausstellung von mechanischen Werkzeugen, wo der mechanische Sinn des Menschen all seine Hilfsmittel offenbart.“
Nicht weniger ingeniös ist der Zürcher Künstler Urs Fischer (*1973), der seit 2006 in New York lebt und zu den höchst gehandelten Schweizer Gegenwartspositionen zählt. Sein agiles, vom lustvollen Umgang mit oft erstaunlichen Materialien angetriebenes Werk, das auch grosse Gesten nicht scheut, entspriesst den Kreuzbestäubungen spontaner Ideen. Als Ideenfänger dient dabei manchmal das Medium der Zeichnung. Bekannt ist Fischer jedoch in erster Linie für seine direkt vom Material inspirierte Objektkunst und seine Gabe, Räume in spektakuläre Gesamtinszenierungen zu verwandeln. Von trashig bis lyrisch, von verspielt bis überspannt, treibt sein quirliger Geist dabei Blüte um Blüte.
Charakteristisch ist auch Fischers Hang zum Rohen oder Zerstörten, dies aber, wie früh konstatiert wird, nahezu in Perfektion. Zupackendes Handwerk geniesst den entsprechenden Stellenwert, wie etwa der bis dato radikalste Eingriff des Künstlers zeigt: das metertiefe Ausbaggern der Räume seines New Yorker Galeristen Gavin Brown. Im Vergleich dazu wirken die Interventionen, zu denen „The Intelligence of Flowers“ (2005) gehört, geradezu moderat. Nicht der Boden, sondern nur die Wände werden hier durchbrochen. Das Ergebnis ist Anarchitektur. Die Schnittführung soll zufällig, ja ungekonnt anmuten. Allfällige Linien – akademisch: Pentimenti – bleiben stehen. Auch Späne und Splitter werden nicht weggefegt, sondern wie Bauschutt in die Schwelle gefüllt. Das herausgelöste Stück wiederum wird in originaler Wanddicke rekonstruiert. Skulptur geworden und dennoch nicht autonom, wird es im selben Raum, unweit der Lücke, freistehend, an eine Wand gelehnt oder liegend präsentiert.
Ihren Ursprung hat die Reihe in der Arbeit „Portrait of a Single Raindrop“ (2003), die Fischer ebenfalls zunächst bei Gavin Brown’s Enterprise realisiert. Dort durchschneidet sie – mit Anklängen an die Cuttings von Gordon Matta-Clark – eine echte Wand inklusive Türe und sorgt so für ungesehene Durchblicke. Noch imposanter kommen die Cut Outs ein Jahr später im Kunsthaus Zürich daher, wo sie Fischers Ausstellung „Kir Royal“ strukturieren. Obwohl diesmal nur Stellwände zerlegt werden, ist der Effekt kolossal. Schlundartig reisst eine ganze Kaskade von Löchern den Blick in die Raumtiefe und demontiert in ihrer Abbruchästhetik jede Erwartung an den Besuch einer gediegenen Institution. Im etwas selbstironischen neuen Werktitel „Middleclass Heroes“ (2004) klingt das forsche Vorgehen ebenfalls an. Mit Recht, denn es ist Fischers erster grosser Museumsauftritt und die erste Schau, für die das Kunsthaus einem jungen Schweizer Gegenwartskünstler den riesigen Bührle-Saal ganz überlässt.
2005 an der Frieze in London und 2006 an der Whitney Biennale in New York setzt Fischer die Skulptur schliesslich erstmals im Rahmen einer Messe respektive einer Gruppenausstellung um, mit der Option, auch Werke von Dritten auf den Wänden zu platzieren. Ihr abermals neuer Titel ist jenem des erwähnten Buchs von Maeterlinck entliehen: „The Intelligence of Flowers“. Im gegebenen Kontext liest sich dies wie ein Echo auf den eingangs zitierten Passus zur Fähigkeit der Blumen, immer neue Verbreitungswege zu finden, inklusive des Prinzips der Variation. Verweisen lässt sich aber auch noch einmal auf die Zürcher Ausstellung, deren Katalog ein besonders freiheitsliebendes Pflänzchen enthält: ein Kleeblatt, das als Cut Out die Vorsatzseite ziert und leicht ausgebrochen werden kann.
Ins Aargauer Kunsthaus gelangt „The Intelligence of Flowers“ letztlich 2020 als Teil einer bedeutenden Schenkung von Ellen und Michael Ringier. Als Flugsamen dienen ein Zertifikat sowie ein fotobasiertes Handbuch für den Aufbau. Im Depot nimmt das Werk also kaum Platz ein. Erst in der Ausstellung blüht es temporär auf.
Astrid Näff, 2022