Bleistift, Kohle auf Papier, 42 x 29.7 cm
Menschen in traum- oder albtraumhaften Handlungen; drastische Liebesakte; Körper, die sich in Sturzbächen entleeren: Im Zeichnungszyklus „When I Was a Child“ des Zürcher Künstlers Peter Emch (*1945) tragen sich eindringliche Szenen zu. Momenthaft eingefangen und in ein brüchiges räumliches Kontinuum gebracht, sind sie ohne ein Vor- und ein Nachher nicht zu denken. Beides entzieht sich jedoch einer festen Kausalität und folglich auch der sprachlichen Benennbarkeit und klaren Deutung. An deren Stelle tritt eine emotionale Gestimmtheit, die latent oder offen Unbehagen erzeugt und verstört. Sie ist typisch für Emchs Interesse am konfliktreichen Verhältnis der Geschlechter und wird auffallend oft anhand von körperlich affizierenden Situationen thematisiert. Von der aufgeladenen Sphäre menschlicher Ängste und Begierden ist sie dennoch nicht zu trennen.
Im Medium der Zeichnung, dem bei Emch die Hauptrolle zufällt, lässt sich diese idiosynkratische Ebene dank der Direktheit des Ausdrucks gut bedienen. Auch ist das zeitliche Umfeld dafür gleich in doppelter Hinsicht günstig. So ist zum einen die Wertschätzung, die Jean Christophe Ammann dem grafischen Denk- und Empfindungsraum 1976 als Leiter des Kunstmuseums Luzern mit der Ausstellung „Mentalität: Zeichnung“ hat zukommen lassen, weiterhin wirksam. Zum andern findet Ende der 1970er-Jahre unter Schlagworten wie transavanguardia, arte cifra, figuration libre und Neue Wilde überall in Europa eine Rückkehr zur Figur und zu neoexpressiven Ausdrucksformen statt. Mit dem ersten Punkt ist Emchs Rezeptionskreis ab 1978 bis hin zur Ausstellung „Blüten des Eigensinns“ umrissen, die das „Schweizerische“ dieses Phänomens 1984/1985 auch international propagiert. Mit dem zweiten teilt der Künstler die rohe Figurauffassung und die hermetische, psychologisch zugespitzte Enigmatik seiner Motive – Wesenszüge, die im helvetischen Kontext zeitgleich unter anderem auch im Werk von Leiko Ikemura, Renate Bodmer oder Annette Barcelo bestimmend sind.
Fremd dagegen bleibt Emch sowohl das allzu Gestische als auch die gänzlich subjektive Entäusserung. Vom Grafikfach herkommend, leiht er seinen Bildwelten vielmehr oft etwas formelhaft Reduziertes, Archetypisches. Besonders deutlich wird dies aufgrund der gewählten Techniken anhand der Holzschnittfolge „Family Life“ (1982, G4346.01–09) und einer Reihe scherenschnittartiger Grossformate der frühen 1980er-Jahre. Schemenhaft Wiederkehrendes prägt aber auch die Werkfolge „When I Was a Child“, die Emch 1980 beginnt. In diesem umfangreichen, am Ende rund sechzig Blätter im Format A3 versammelnden Zyklus mischt sich kindliches Weltverständnis mit austreibender Fantasie. Wiederholt geben etwa Voyeure und autonom agierende Schatten dem Ängstigenden und Unverstandenen Ausdruck. Die alte Mär vom bösen Mann, der uns holt, wenn wir unartig sind, klingt hier nach. Ähnlich beunruhigend wirken die Blickregime zwischen den Bildakteuren, züngelnde Kräfte, die von symbolträchtigen Tiergestalten ausgehen, und die vielen triebhaften Szenen. Selbst stilistisch scheinen die Inhalte aufgegriffen: So betonen feinere, mit härterem Bleistift angelegte Linien die Verletzlichkeit und Exponiertheit der Figuren, kräftiger Kohlestrich unterstreicht die Dramatik. Ungenutzt bleibt das Bunte, Bilderbuchhafte einer fröhlichen Kinderzeichnung. Mit kantigem Duktus, der jegliche Virtuosität strikt meidet, taucht Emch in die Dunkelzonen der kindlichen Psyche ein und erforscht deren Mythologie.
Astrid Näff, 2024